Dass Du und ich nicht dasselbe vom Leben wollten, ist mir heute auch klar; ich frage mich nur, wer dann? Wer, wenn nicht wir? Niemand? Kann das wirklich die Antwort sein?
Allein und frei umhergehen, sich nicht und niemals verleugnen. Vor niemandem, auch mir nicht. Weil das Leben viel zu kurz, die Zeit viel zu kostbar ist, um nicht sich selbst zu sein. Das sei in etwa das, was einst von mir zu lernen war, war mir einmal gesagt worden. Die Selbstbestimmung, um sich auch in einem lästigen und immergleichen Alltag den Freiraum für ein bisschen Leben zu erkämpfen. Und wenn ich an frühere Jahre zurückdenke, frage ich mich, ob es nicht besser gewesen war, als wir zwar wenig Geld, aber viele Ideale gehabt hatten. Die Welt wollten wir nie verändern, zu diesen Menschen hatten wir nicht gehört, doch wollten wir gemeinsam stets das Schöne im Kleinen, Unscheinbaren suchen. Das dachte ich zumindest. An manchen Tagen, wenn mir das Unscheinbare nicht länger genügt oder ich es vielleicht sogar am liebsten teilen würde, suche ich stattdessen einmal nach den wenigen Menschen, die ich früher kannte und die mir, meist für viel zu kurze Zeit, nahegestanden hatten. Auf vereinzelten Bildern, die ich bei meiner Recherche auffinden kann, blicken sie lächelnd in die Kamera, nicht selten in Bezug zu ihrem heutigen Beruf. In die Stadt waren sie längst gezogen, hatten dort eine Ausbildung absolviert oder gar studiert, sind schließlich fest und alltäglich in einem der gewöhnlichen Berufe eingebunden, die zwar notwendig und doch immergleich scheinen. Die Arbeitsstelle liegt häufig nur wenige Querstraßen weiter zur Wohnung, die sie, nicht selten aus Bequemlichkeit, schon seit Jahren bewohnen, auch wenn hinter den Fenstern kaum der Himmel zu sehen ist. Der Himmel, der uns immer zum Träumen einzuladen wusste, wenn wir an Sommertagen, die uns, jung wie wir waren, zeitlos schienen, wir in Wiesen und zwischen den Bäumen gelegen und dabei hinaufgesehen hatten, nicht müde wurden die Wolken und unzähligen Gestalten darin zu zählen. Es ist eine Suche, die ein wenig schmerzt und deshalb immer auch die Frage in mir hinterlässt, wieso ich sie überhaupt unternehme. Vielleicht, weil es einer dieser zum Scheitern verurteilten Versuche ist, die Vergangenheit mit der Gegenwart in Einklang zu bringen. Versuche, von denen wir scheinbar nicht ablassen können, obwohl das Ergebnis längst bekannt ist.
Fremd sind wir einander längst geworden und vermutlich tut es gerade deshalb zuweilen regelrecht weh, den anderen wenigstens auf diese Weise wiederzusehen. Wenn es eine frühere Verliebtheit ist, wirkt sie nicht selten noch immer ungemein schön und scheint, gleich wie unerklärlich das vielleicht sein mag, auch heute noch einen festen Platz im eigenen Herzen zu haben. Nicht Neid auf dessen Leben erfüllt mich, sondern eher Traurigkeit und Sehnsucht, weil wir das Leben doch gemeinsam hatten verbringen wollen. Zumindest war es das, was wir uns in und zwischen den Zeilen gesagt hatten. Doch wenn ich sie jetzt auf diese Weise vor mir sehe, frage ich mich, was nun – auf Beruf und Einkommen, Lebensgefährte und Wohnung – noch folgen soll. Wollten wir nicht frei sein, jederzeit jede Brücke abbrechen und alles zurücklassen können? Alles, nur uns beide nicht? Aber, und das scheint der Unterschied, sind sie vielleicht tatsächlich frei, nur ohne mich und auf eine ganz andere Art und Weise. Noch dazu vermutlich tausendmal glücklicher, als ich es je sein könnte. Doch den Gedanken, dass der Hang zum Opportunismus, der Wunsch nach Zugehörigkeit und einem festen Platz im Leben, über kurz oder lang noch die meisten zum Mittelmaß geführt hat, den werde ich lange nicht los, ist es doch das, was ich in meinem, wenn auch kargen Umfeld wieder und wieder zu beobachten glaubte. Vielleicht, und das ist wohl zu hoffen, waren es nicht der Opportunismus, sondern unterschiedliche Vorstellungen vom Leben, die nach und nach ans Tageslicht gelangten und ihre Verwirklichung fanden. Doch, ein Zweifel bleibt, dass an irgendeinem Punkt, vielleicht sogar ganz und gar unbemerkt von den Protagonisten, der Zauber der Träume mit dem Streben nach Sicherheit und Beständigkeit ersetzt wurde. Vielleicht so, als sei erwachsen der, über den das Gewöhnliche die Überhand gewann.
Zurückgeblieben bin dabei scheinbar nur ich. Das immergleiche Spiel, dass selbst die allerbesten Freunde zu Bekannten werden, mit jemandem zusammenziehen und schließlich Kinder in die Welt setzen, habe ich schon zu oft erlebt, um mich noch darüber zu wundern. Ich denke, dass ich mir treu geblieben bin – zumindest hoffe ich das -, doch bin ich damit, oder überhaupt, auch alleine geblieben. Ob, und wie herum sich die beiden nun bedingt haben, bleibt mir wahrscheinlich auf immer unbekannt. Auch ich unterliege Zwängen, doch sind es überwiegend Innere, keine Äußeren. Meinem ewigen Getriebensein nach künstlerischer Verwirklichung, mein fast schon kindliches, vielleicht auch pedantisches Bestreben irgendwie anders zu sein, solche Dinge. Das Geld reicht auch nur gerade so zum einfachen Leben. Spartanisch zwar, aber eigentlich stört mich das nicht, geht es vermutlich längst ohnehin vielen ähnlich, vielleicht sogar schlechter. Immerhin, sage ich mir manchmal, bin ich mein eigener Herr geblieben. Immerhin, weil ich versuche die Einsamkeit mit ihrem Leben abzuwägen, so als ginge das und würde auch nur irgendeinen Sinn ergeben.
Und vorhin, da saß und stand ich hier, im Abendlicht in der kniehohen Wiese zwischen den sommerlichen Hügeln. Ich wartete auf den Sonnenuntergang, hoffte auf besonders schönes Licht im nahen Sonnenblumenfeld, das sich etwas unterhalb vor mir ausbreitete. Ich hörte schließlich Musik, auch wenn mich die vorangegangene Stille nicht unbedingt gestört hatte. Und plötzlich hätte ich schreien können. Die Musik und Einsamkeit, nicht die des Tages, sondern eher des Lebens, sie brannten in meinem Inneren. Doch zugleich war genau das, so seltsam es klingen mag, absolut großartig. Ich hätte mich am liebsten, alleine wie ich hier war, an das Sonnenblumenfeld gestellt, gebrüllt und dabei die Musik aufgedreht. Immer weiter und weiter, bis sie schließlich meinen ganzen Kopf, mein ganzes Sein erfüllt hätte und da nichts anderes mehr gewesen wäre. Nichts anderes außer ihr, und all dem Gefühl, für das ich keine Worte finden kann. Ich glaube, ich hätte mir am liebsten die Seele aus dem Leib geschrien. Verstehen kann das vielleicht kaum einer, zumindest habe ich noch nie jemanden kennengelernt, und wahrscheinlich geht es darum auch gar nicht. Ich meine, vielleicht ist es genau das, wogegen ich ein Leben wie ihres tauschte oder gerade nicht tauschte: Einsamkeit. Sie habe ich mir bewahrt, und sie mich. Aber eigentlich, eigentlich war das von ganz alleine und ohne mein Zutun gelungen.
Trotz allem bleibt am Ende die Einsicht, dass ich sie vermisse, diesen Menschen meines früheren Lebens, war sie doch eine viel zu große Verliebtheit gewesen, um sie vergessen zu können. Und ich bin traurig, unendlich traurig, nicht an ihrer Seite gewesen zu sein. War da nicht eine Zeit, in der wir uns von jedem Sonnenauf- und Sonnenuntergang erzählen wollten? Und als ich einmal meinen ganzen Mut zusammennahm und Dich danach fragte, sagtest Du mir, dass Du glücklich seist und dass das hoffentlich auch für mich gälte. Ich hatte, ob ich nun wollte oder nicht, instinktiv vor mir übersetzt, was Du mir damit zu sagen versuchtest und daraufhin geschwiegen. Nur eines meiner ewig stillen Du fehlst mir hatte ich, immerhin etwas lächelnd, in die Welt hineingedacht. Hätte ich etwas anderes tun können, Dir vielleicht von der Einsamkeit erzählen sollen, an der Du noch nie Interesse gezeigt hattest, auch gar nicht musstest? Nein, ich hatte verstanden. Lass mich in Frieden, ich habe mein eigenes Leben, bin ohne Dich längst glücklich, war es, was sie mir hatte sagen wollen. Doch etwas hatte sie davon abgehalten, vielleicht dasselbe Etwas, das uns überhaupt zueinander geführt und später auseinandergetrieben hatte. Vielleicht war ich zwar groß in der Selbstbestimmung, doch über die Grenzen, die andere bei mir empfanden, kam ich auch damit nicht hinaus.
2021/06/23