Manchmal erinnere ich mich an Dich. Dann ist es der Mond, der Regen oder vielleicht der Geruch von Schnee, der mir wieder vor Augen führt, dass nichts so wirklich in Vergessenheit gerät, schon gar nicht wir, die wir doch die besten Freunde füreinander gewesen waren, die sich einer überhaupt wünschen könnte. Wir, neben denen all die anderen Begegnungen eines Lebens vielleicht vieles gewesen sein mögen, doch nie genug. Nur mit Dir zu sein, hatte sich einst danach angefühlt, als würde ich am ganzen Körper umarmt werden. Eine Seele die andere, fest in den Armen. Und das kann und wird es wohl kaum ein zweites Mal geben, oder?
Geblieben ist mir heute die Erinnerung an unsere Spaziergänge an lauen Frühlings- und Sommerabenden, die ausgedehnt und doch verträumt waren und nicht selten an einen Restaurantbesuch anschlossen, den wir uns zwar kaum leisten konnten und doch nicht davon ablassen wollten. Den Kellner verließen wir meist nach einer herzhaften Verabschiedung, machten uns im Licht der Straßenlaternen unter dem jetzt nachtblauen Himmel zusammen auf den Weg nach Hause. Nicht selten waren wir dann zum Scherzen aufgelegt, vor allem als ein Kellner einmal, nachdem er eine Kerze zwischen uns angezündet hatte, plötzlich seine Hand auf meine Schulter legte, so als wolle er mir zu meinem guten Fang gratulieren. Oft hielten wir noch für mindestens einen Moment inne, standen irgendwo zwischen Aufbruch und unserem Zuhause schweigend minutenlang Seite an Seite und sahen uns die Silhouette der Stadt oder das Schwirren der ewig ruhelosen Nachtfalter unter einer der Straßenlaternen an. Still waren wir dann gewesen, doch nicht stumm und gleich, ob ich Dich an meiner Schulter angelehnt spürte oder nicht – ich wusste Du warst da. Wenn es aber heiß war, zu heiß für die engen Gassen der Stadt und selbst die Brücken am Fluss, waren wir manchmal zusammen an den See gefahren. Dann hattest Du reglos und still auf dem Rücken vor mir im Wasser getrieben, Dein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem meinen entfernt. Und wenn wir wieder auf der Wiese in der Sonne lagen, berührte sich nicht selten unsere nackte Haut scheinbar zufällig dann und wann, während wir dösten oder uns von den jeweiligen Freunden und der Arbeit erzählten. Ein Alltag, der kaum wie einer schien, waren darin doch viel zu häufig diese bestimmten, flüchtigen Berührungen, die wir beide scheinbar nicht bemerkten und die doch von Zweisamkeit, vielleicht sogar Intimität zeugten. Ich erinnere mich auch daran, wie ich Dich einmal lachend und immer schneller und schneller, ich auf dem Rad, Du auf Deinen Inlinern, entlang der Gleise durchs Industriegebiet gezogen hatte. Als wir wieder Zuhause angekommen waren, ich gerade die Haustüre für uns aufschließen wollte, hattest Du mich mit Tränen in den Augen gefragt, ob wir das denn wieder einmal machen könnten. So, als wäre das etwas ganz Besonderes und Einmaliges gewesen. Vermutlich aber war es das, hatten wir doch beide zuvor nie wirklich Freunde gehabt, auch wenn uns das, bevor es uns schließlich gab, nie wirklich aufgefallen war. Mit Sehnsucht denke ich daran zurück, wie es war, wenn wir spät in der Nacht und über einen ganzen Parkplatz hinweg ein vertrautes Lächeln miteinander austauschten. Wenn wir in eiskalten Nächten gemeinsam einsam durch den Schnee stapften und heimlich auf Baukräne hinaufkletterten, um den Mond endlich wieder frei vor Augen zu haben und über all den anderen zu sein, die längst schliefen. Du bist es nie müde geworden, mich nach meinen Seufzern zu fragen. Du bist überhaupt der einzige Mensch gewesen, der mich wirklich nach etwas gefragt hatte.
Ich erinnere mich auch an den Regen vor unserem Fenster, das schönste Lied der Nacht, das wir je gehört hatten. Wenig später dann Vogelgezwitscher in der Morgendämmerung, Musik, die leise und doch deutlich und ungemein schön aus dem Inneren eines unbekannten Wagens zu uns hinauf drang, während Du im fahlen Licht vor mir am Fenster gestanden hattest, fort zur Arbeit musstest und ich Dich schon jetzt vermisste. Ich vermisse Deine Haare und Dein Lächeln im Wind, Sommersprossen, die die Sonne an kalten Wintertagen ganz besonders zum Vorschein brachte, Gute-Nacht-Umarmungen zwischen den Türen und die orangenen Lichter der Industrieanlagen am Horizont, die wir auf unseren Heimfahrten aus der Ferne gesehen hatten.
Dann, unseren ersten Streit und überhaupt all Deine Tränen und Schluchzer, die damals viel zu häufig durch die Wände zu mir drangen. Auch an die schlechten Tage erinnere ich mich, wenn wir beide so tief in unseren Schatten versunken waren, dass selbst Zweisamkeit lange weilen musste, bis wir zumindest ein kleines Lächeln zustandebrachten, den Blick wieder ein wenig heben konnten, vielleicht nicht zum Himmel und doch wenigstens vom Boden oder der Leere fort. An diesen Tagen, eine Drei-Minuten-Umarmung auf dem Parkplatz des Supermarktes, Dein Körper fest an dem Meinen. Ob es an Deiner Größe lag, dass Du Dich so gut angefühlt hattest? Ich erinnere mich, dass wir, als es schließlich das erste und zugleich letzte Mal für uns Winter geworden war, über den Lichtern der Stadt in der Kälte saßen und ich mich unendlich fern und verloren fühlte. Selbst von Dir. Ein wenig später erst der Ruf einer Eule im dunklen, einsamen Novemberwald, dann Regentropfen auf dem Dach der Bushaltestelle, Du darin an meiner Seite, den Kopf fest an meiner Schulter. Wie spät ist es eigentlich, hast Du irgendwann in den Regen hineingefragt, auch wenn Du sicher die ganze Nacht mit mir hier sitzengeblieben wärst. Nicht, weil Du das hättest müssen, sondern weil Du gewollt hättest, solange es nur dabei helfen könnte die Schatten zu vertreiben. Schatten, die, trotz all unserer Versuche, irgendwann größer als wir beide wurden, längst in unsere Leben hineinreichten und uns darunter begruben. Nur, zum ersten Mal nicht länger gemeinsam, sondern ein jeder für sich.
Ob Du davon weißt, dass ich Dich wiedergesehen habe? Du hast am Bahnhof gewartet und ich bin keinen Meter weit entfernt an Dir vorübergegangen. Nach all der Zeit, den Monaten und Jahren. Und ich hatte doch mit klopfendem Herzen gehofft, dass Du mich nicht siehst, auch wenn ich nicht wusste weshalb und es auch heute noch nicht weiß. Doch seltsam, dass Du dann ausgerechnet ganz vorne gesessen hast und ich Dich nichtsdestotrotz zwischen all den anderen Menschen hindurch ansehen konnte. Die Fahrt schien zu kurz, denn schon warst Du auch wieder ausgestiegen, nur wenige Haltestellen entfernt von mir und meiner damalig vorübergehenden Bleibe, die Du schon gar nicht mehr kennengelernt hattest. Du hast einsam ausgesehen. Du, alleine zwischen den Passanten hindurch und dann über die Straße gehend, auch jetzt mit dem Rücken zu mir. Aber, was heißt das schon, was weiß ich denn heute noch von Dir. Vielleicht wirklich nichts weiter, als dass sich mein Herz noch zu erinnern weiß und ich es schon viel zu lange nicht mehr so deutlich hatte hören können.
Ich glaube, fern sind wir uns schon lange. Dass wir in ganz anderen Welten leben und nichts etwas daran ändern könnte, nicht einmal wir selbst, wenn wir es denn wollten. Und doch, ich erinnere mich manchmal. An Dich, meine einzige Freundin, damals wie heute. Dass mir früher etwas gefehlt hatte, das ich zwar in Dir fand aber doch wieder verlor, hatte ich erst durch unseren Abschied erfahren.
2019/01/26