Ich stehe also dort oben, den salzigen Meereswind auf meiner Haut, und sehe, wie Du langsam Deine Arme hebst und in den Himmel streckst. Für einen winzigen Moment da frage ich mich, ob ich nun zu Dir hinuntergehen sollte. Dass Du vielleicht willst, dass ich meine Arme fest um Dich lege, oder Du, wie wenn wir einst Kinder waren, vom Vater in die Luft gehoben und umhergeflogen werden magst. Wie ein Vogel im Wind, den man nur loslassen müsste. Wie ein Vogel, den hier unten nichts mehr hält. Dann blickst Du zur Seite, so als wüsstest Du, dass ich hier stehe und Dich beobachte.
Ich schreibe in die Ferne, ein wenig gleich der scheinbar endlos langen Nachtfahrten, auf denen ich manchmal, um mir ein wenig die Zeit zu vertreiben oder wenigstens nicht ganz alleine darin zu sein, tausende Gedanken und Worte hinein ins Unbekannte richte. Ehrlich gesagt, es ist eine solche Fahrt. Ich überlege und formuliere, wieder und wieder von neuem an, wie ich das sonst auch immer tue, nur dass ich es dieses Mal tatsächlich zu Papier bringen und in eine bestimmte Richtung aufgeben werde. Während ich grüble, wird mir klar, dass sich vom Leben zu erzählen doch auch bedeutet, dass eigene danach abzutasten. Nach Spuren zu suchen, irgendetwas darin zu finden, bei dem wir erleichtert aufatmen und Gewissheit erlangen können, vielleicht nicht unbedingt alles, aber doch zumindest das meiste richtig entschieden zu haben. Oder vielleicht, dass das Leben überhaupt durch Entscheidungen bedingt war, neben all den Einflüssen von außen auch ein wenig in den eigenen Händen lag. Nicht einmal die Frage, was vielleicht gewesen wäre, umtreibt mich, sondern vielmehr die Spurensuche danach, was es ist, das von einem anderen Menschen in uns bleibt, uns noch immer zu begleiten scheint. Dann, wenn wir einander, nach außen hin, längst fern und fremd geworden sind. Während Du von alledem unberührt weiter Dein Leben lebst, nichts von meinen Gedanken weißt und vielleicht gerade beim Abendessen sitzt, ich zur gleichen Zeit, nur tausende Kilometer entfernt, die Landstraße in der Abenddämmerung hinter mir lasse, den Weg in den Norden finde, beschleunige, sehe, dass es schon fast Mitternacht ist und ich doch noch einige hundert Kilometer vor mir habe, denke ich mir, dass es doch ungemein interessant ist, dass zwei Leben, die einmal fast eines waren, nur ein wenig später längst wieder ungemein verschieden sind. Jetzt, in diesem Moment, wünschte ich mir fast, dass ich sie nun beide parallel vor mir sähe. Ausgebreitet, wie ein Buch, in dem ich, ganz wie mir danach wäre, blättern könnte. Wie ein Zeitstrahl, Seite für Seite, Jahr um Jahr. Vielleicht könnte ich darin sogar etwas über unsere Vergangenheit erfahren, als wir uns noch gar nicht kannten. Ein wenig wie heute, und doch anders. Anders, weil wir uns nicht bekannt waren aber auch gar nicht voneinander wussten. Auch wenn ich mir schon manchmal gewünscht hatte, ich hätte tatsächlich nie von uns gewusst. Herausfinden würde ich gerne, wieso wir uns kennengelernt hatten, nur um dann auf diese Weise zu enden. Vielleicht würde es mich ein wenig trösten, diesen Wendepunkt zu sehen, von dem an unsere beiden Geschichten getrennt voneinander erzählt werden, es nur meine Erinnerungen sind, die dort eine Brücke spannen, wo längst keine mehr ist; und, wenn es nach Dir geht, auch niemals mehr eine sein soll. Jeder Faden gerissen, jeder Bogen eingestürzt. Stunden später, da schläfst Du längst friedlich an jemandes Seite, den ich nicht kenne, gelange ich zu der späten Einsicht, dass ich die wenigen Menschen, die mir einst etwas bedeutet haben, vielleicht einfach für wichtiger nahm, als sie es tatsächlich waren. Dass ich sie für etwas ganz Besonderes hielt; und gegen jede Vernunft verteidigte. Nicht einmal vor anderen; aber, was vielleicht noch viel schlimmer ist, vor mir. Vielleicht habe ich sie gerade deshalb immer verkannt, war niemals dazu in der Lage, sie als das zu sehen, was sie tatsächlich waren. Ganz zu schweigen davon, dass ich sie unweigerlich meinen Erwartungen aussetzte. Die Erwartung, Teil von mir zu sein, etwas mit mir gemein zu haben. Und das hatte und könnte niemand wollen. Vielleicht waren sie, wird mir hier spät in der Nacht klar, schlicht und einfach darin gewöhnlich, vor mir zu erkennen, dass wir nicht zueinander passten. Dass es damit an ihnen war, das zu tun, was es nun zu tun galt: Abschied zu nehmen, Segel zu setzen. Auf der Suche nach einem anderen. Und ehrlich gesagt, ich hatte es ihnen nicht verdenken können. Ich könnte mir vielleicht einreden, dass die Zeit, in der ich Gast ihres Lebens war, sie wenigstens dorthin führte, wohin sie gelangen wollten, doch fürchte ich, dass ich mir damit eine viel zu große Bedeutung beimessen würde. Leider viel zu oft, schienen mir diese Begegnungen zu sein, wie wenn ich, auf einer meiner Reisen, über eine Wiese, einen Waldboden stapfte. Das Moos zu meinen Füßen gab bei jedem meiner Schritte ein wenig nach, atmete ein und aus. Und wenn ich dann fortging, war es, als wäre ich überhaupt nie hier gewesen. Manchmal war mir dabei, als hätte ich hinter meinem Rücken ein erleichtertes Aufatmen wahrgenommen. Als wäre, was auch immer dann hinter mir lag, nun froh darüber wieder frei und unbehelligt von mir zu sein, würde keine Last mehr auf den Schultern verspüren. Keine Sorge, ich bleibe nicht lange, habe ich mir schon damals immer gedacht, wenn wir doch einmal zusammensaßen, ich für eine Nacht an jemandes Seite schlief oder jemand mich in die Arme nahm, ich den Kopf eines anderen an meiner Schulter spürte. Das war immer ein wenig, als würde es plötzlich Sinn machen überhaupt eine Schulter, ein Herz zu haben. Eines, das schlug. Trotz allem. Nicht, dass ich hätte gehen wollen. Ich konnte und sollte nur nicht bleiben, weil ich nicht dorthin gehörte.
Wohin ich gehöre, fürchte ich, kann ich auch heute nicht beantworten. Vielleicht gerade hierher, noch immer in der Nacht alleine unterwegs. Alleine mit mir selbst, meinen Gedanken, den Erinnerungen an Früher. Manchmal sehe ich sie dabei vor mir, sie, mit ihren zwei Gesichtern, die mir nicht aus dem Kopf gehen. Erfahren will ich, wer sie denn nun eigentlich ist. Vielleicht gelingt mir heute, aus der Distanz heraus, was ich früher nicht vermochte. Also beschließe ich zu schreiben, nach Antworten zu suchen. Ich fürchte nur, dass ich sie am Ende in mir, und der Welt suchen muss, was in Anbetracht der Dinge vielleicht ein und dasselbe ist. Die Worte wähle ich mit Bedacht, stelle sie zusammen wie ein Leben. Als gälte es nun, ginge es um etwas. Und das tut es, es geht um etwas. Um mich. Ich könnte mit einreden, dass diese Worte etwas bewirken würden, vielleicht tatsächlich von ihr wahrgenommen und etwas entfachen würden. Doch tue ich es nicht. Längst habe ich verstanden, dass auch tausende Kilometer, die ich zwischen uns gebracht habe, unbedeutend sind, im Vergleich zur Distanz, die sie mit ihren Worten in Sekunden geschaffen hatte. Distanz, größer als ein ganzes Leben. Und auch wenn ich das weiß, suche ich trotzdem nach Worten für das, was ich verspüre. Vielleicht nur verkenne ich dabei, dass Worte selbst Distanz bedeuten. Dass sie nichts als Entfremdung sind. Ein peinliches Stochern im dichten Nebel, der sich für niemanden lichten wird – weder mich, noch einen anderen. Manchmal glaube ich, dass Worte in der Einsamkeit ihre Bedeutung verlieren. Versprachen sie nicht einst genau das Gegenteil? Führten sie am Ende nicht doch zu nichts? Aber, für wen könnten Worte wichtiger sein, als für die, die niemandem zum Fühlen haben? Ich lasse nicht davon ab, setze hier und da Punkte, die Sätze beenden sollen, wie ein Leben. Als seien Sätze wie Leben, und umgekehrt. Anfang, Mittelteil und Schluss. Schließlich, ein letzter Punkt, mit dem alles zu Ende geht. Und sie sind es; nur dass kaum einer davon weiß. Ich schreibe, als hätten wir all die Jahre im Stillen miteinander gesprochen und würden unser Gespräch nur für einen Moment einmal auf Papier verlagern. Ich lege mich, mit jeder Zeile, die ich schreibe, selbst hinein, in diese Worte. Und ich begreife, dass ich schon verloren habe. Nicht mich, sondern nur alles, was außerhalb von mir liegt und auf eine Antwort wartet. Ich habe nicht verloren, weil es mir nicht gelingen würde mich auszudrücken, ich ein schlechter Briefeschreiber wäre, sondern eben weil es mir gelingt. Am Ende bin noch immer nur ich selbst darin. Ich habe mich in diese Zeilen gelegt; und damit wird es nie genug sein, niemals das sein, wonach sie sucht. Trotz allem, so seltsam das anmuten mag, bin ich zufrieden mit mir und meinen Worten. Ich lächle sogar für einen Moment. Es ist eines meiner mir eigenen, etwas verhaltenen Lächeln, die in der Nacht außer mir keiner sehen kann, vielleicht überhaupt nie jemand außer meinem Spiegelbild gesehen hat.
Und Du, was weißt Du schon von alledem? Du, der Du Dich in die Arme eines anderen gelegt hast und fern von mir in der Nacht schläfst. Nacht, die auch Du einsam an mir vorüberziehst, während ich rastlos in Dich hineindenke. Aber keine Sorge, ich bleibe nicht lange. Nicht einmal in Dir.
Früh am Morgen wache ich auf, ein weiterer Sonnenaufgang meiner langen Reise naht. Seit ich mich nicht länger vor Nacht und Welt verschließe, erübrigt sich ein Wecker. Überhaupt, ich muss nirgendwo bestimmtes sein. Nirgendwo, außer dort, wo ich sein möchte. Ich ziehe mir eilig etwas über, gehe über die Wiesen und Pfade hinüber zum Leuchtturm. Dort angekommen, sehe ich mir still und ohne große Worte den Sonnenaufgang an. Ich fotografiere ein wenig, halte mein Gesicht in die salzig frische Meeresluft und die ersten Sonnenstrahlen hinein. Ich bin alleine hier, sehe weit und breit keine Menschenseele. Vielleicht könnte ich sogar sagen, dass niemand hier ist. Mensch bin ich schon lange nicht mehr gewesen. Und wenn, ist es wohl einzig an der Sonne, die nun nahezu anmutig über dem Meer aufgeht, mir einen Guten Morgen zu wünschen. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, auf diese Weise zu leben. Alleine zwar, aber auch eigen. Und am Ende, am Ende hast Du geantwortet. Du hast geantwortet, nicht antworten zu wollen. Das ist mehr, als ich Dir zugetraut habe. Das ist mehr, als Du zu mir sagtest, als wir uns kannten. Ich glaube, von Dir ist gar nichts mehr übrig. Geblieben sind mir nur die Worte.
2022/05/16