Heute Morgen, der November ganz kalt auf meiner Haut, habe ich einen riesigen Vogelschwarm gesehen. Am Ufer eines kleinen Sees stand ich, schwieg, und selbst der Himmel schien tief erschöpft auf Wiesen und Wegen zu ruhen. Unerwartet, einem von mir ungehörten und auf immer unbekannten Ruf folgend, stiegen hunderte Stare aus dem Verborgenen auf. Hinaus aus Schilf und Wäldern, tausende schwarzer Punkte. Ihr Flügelschlag, wie ein plötzlicher Sturmwind, ein Rauschen in großen, alten Baumwipfeln. All das keineswegs abrupt oder gar willkürlich, zu keiner Sekunde. Vielmehr ein Schauspiel voller Anmut; auch wenn ich fürchte, dass selbst diese Worte der Schönheit, die darin lag, nicht gerecht werden. Dass so etwas überhaupt in dieser Welt zu existieren vermag, wunderte ich mich. Diese unzähligen, geschwungenen Formen vor novembergrauem Himmel, die schon in der nächsten Sekunde auf immer vergessen waren. Ein steter Wandel, zu jedem Moment und auf immer einzigartig. Beinahe einem Tanz gleich, flogen sie minutenlang hin und her, formierten sich unentwegt neu. Wenn ich müsste, ich würde wohl sagen es war wie Musik. Die Melodie eines Liedes, das man nicht hören, sondern nur fühlen kann. Ganz tief in der Seele. Eine Komposition, eines unbekannten Choreographen in seinen kühnsten Stunden entsprungen, die hier, scheinbar nur für mich, vorgetragen wurde. Probe, Uraufführung, und letzte Vorstellung zugleich.
Ich glaube wie ich dort alleine am Ufer stand, sah und traurig war angesichts der Schönheit, da habe ich wirklich begriffen, dass ich nichts bin. Nicht das Geringste. Aber dass das auch irgendwie schön ist, wunderschön. Weil ich doch, ganz gleich wie nichtig und unbekannt ich sein mag, hier für mich existiere. Und dass ich, auch wenn ich nie danach gefragt hatte, nicht nur sehen, sondern auch zu fühlen und denken vermag. Ich fotografierte nicht; auch wenn ich mir bereits sicher war, dass ich es später einmal bereuen werde. Doch ich wollte eigentlich ohnehin nicht das, was ich vor mir sah, festhalten, sondern stattdessen wer und was ich selbst in meinem Inneren war. Ich wollte mir diese Traurigkeit, die sich so vollkommen anfühlte und alles in meinem Inneren auszufüllen schien, am liebsten für immer bewahren. Nur, müsste ich dazu nicht ebenso all die anderen vergangenen Tage festhalten können? Die Einsamkeit, die doch nichts anderes als Zeit, und deren Gesamtheit ein Leben ist? Mein Leben. Musste ich nicht all die Tage einsam sein, um genau heute hier zu stehen und auf diese Art und Weise empfinden zu können? Und ich fragte mich, ob in manchen Augenblicken nicht auch die Tage meiner Vergangenheit umherfliegen. Auf und ab, ganz wie die Stare dieses Schwarms. Unzählige Erinnerungen, scheinbar unbedeutenden wie einprägsamen, die sich mit der Zeit abspalten und anders formieren um sich nach kurzer Unruhe, einem Seelenwind, in neuer Ordnung in mir niederzulassen und das, was ich nun bin, zu beschreiben. Dass ich zwar immer dieselben Erinnerungen habe, doch ihre Anordnung mich unentwegt zu etwas anderem werden lässt. Eben ganz danach, wie sie sich herabsenken und in meinem Inneren zur Ruhe kommen. Heute glaube ich, dass wahre Schönheit schmerzt, und traurig machen muss. Und überhaupt scheint doch nur wirklich schön zu sein, was allein und einzig um seiner selbst willen besteht. All das, das sich nicht einmal des eigenen Zaubers bewusst ist. Das unbedacht und unbefangen einzig einem inneren Impuls folgt. Und war es nicht immer genau das gewesen, das ich selbst in anderen Menschen gesucht hatte? Ein kurzer Augenblick, in dem man, angesichts meiner Aufmerksamkeit und Zuneigung, verwundert, vielleicht sogar überrumpelt gewesen war. Solange, bis man verstand, und sich aufmachte. Auf der Suche nach einem Ebenbürtigen, den eigenen Vorstellungen besser gerecht werdenden. Ich habe sie, weil ich wusste, dass uns nicht viel Zeit bleiben wird, immer auf eine ganz bestimmte Art und Weise angesehen, um mir das, was ich zu sehen und zu entdecken glaubte, bewahren zu können. Und eben weil ich sie so ansah, verschwanden sie schon kurz darauf aus meinem Leben. Vielleicht auch um sich selbst vor ihrem eigenen Verlust zu schützen. So als wären sie, mit jeder Minute, in denen ich sie ansah, weniger geworden.
Ebenso unerwartet und plötzlich das Schauspiel begonnen hatte, nahm es vor meinen Augen sein Ende. Fast so, als wäre es gar nie gewesen. Nichts als Einbildung, einem gescheiterten Träumer entsprungen. Ich seufzte, wischte mir flüchtig über mein Gesicht und verstand, und verstand zugleich nicht. Ich schien, einsam wie ich war, unendlich frei; aber ich fürchtete auch, dass mir die Traurigkeit längst zur Sehn-Sucht geworden war. Wie lange würde ich mich von heute an durch das Leben tragen müssen, um wieder einmal so zu fühlen? Was, wenn es länger dauern würde wie ein Menschenleben? Und ich fragte mich augenblicklich, wie sie, diese Menschen um mich herum, nur ihre feisten, großen Körper durch und in diese Welt hineintragen können. Frei von Scham, als Selbstverständlichkeit, vielleicht Form ureigener Ignoranz, während ich selbst doch am liebsten schon immer nichts gewesen wäre. Ein stiller Betrachter, der keinen Raum für sich beansprucht, noch sich, gleich ob einem anderen oder überhaupt der ganzen Welt, aufzudrängen vermochte. Voller Unglauben über das, was ich noch kurz zuvor erlebt hatte, ging ich durch den Nebel. Und ich erinnerte ich mich an einen Moment vor einigen Jahren. Man hatte mich verlassen, am Hauptbahnhof stehend. Das alles zwischen ihr und mir schien still als Gewissheit in der Welt zu stehen. Ganz ohne, dass mit Worten darüber gesprochen worden wäre. Man hatte mich nach einer Weile des Schweigens nur danach gefragt, wie ich so sein könne. Ich glaube, man meinte: So still, und gefasst. Und ich weiß gar nicht mehr, was ich sagte und ob ich überhaupt etwas sagte. Vielleicht lächelte ich sogar. Einfach, weil ich das damals noch konnte – selbst dann, wenn es zunächst nicht immer angemessen schien. Ich war mir gewiss über das, was kommen würde. Sie, die Traurigkeit und Einsamkeit, empfingen mich, noch bevor dieser Mensch, der doch gerade vor mir stand, Abschied von mir genommen hatte. Wie einen alten, niemals vergessenen Freund schlossen sie mich längst in ihre Arme. Ich wusste, dass es auf eine seltsame Art und Weise gut und tröstlich sein würde, wieder voll und ganz in ihnen zuhause zu sein. Auf dass ich alleine und einsam durch die Welt stapfen und nach ihr, und einem Ende der Einsamkeit, suchen könnte. Auf dass ich dabei nichts bin, aber eben dieses Nichts voll und ganz. Aufrichtig, und ehrlich. Mir schien, damals wie heute, dass die Traurigkeit, auch wenn ich sie in meiner kurzen Reise zum Glück fast gänzlich vergessen hatte, in Wahrheit doch der Urzustand all meines Seins wäre. Dass dieses Glück, das ich zweifelsohne noch kurz zuvor in der Zweisamkeit verspürt hatte, nur eine Ausnahme gewesen war. Ein dummer Zufall, ohne jede Chance auf ein Festhalten oder erneutes Wiederfinden. So als würde unter allem, jedem meiner Gefühle und Gedanken, immer Einsamkeit sein. Selbst dann, wenn ich längst nicht mehr sein werde. Und wieso, wieso hätte ich vor etwas fliehen sollen, das mir mit den Jahren vertrauter geworden war, als jeder Mensch und jede ihrer seltenen Berührungen? Diese wenigen Menschen, in deren Leben ich doch immer nur für kurze Zeit Gast gewesen war. Flüchtiger als ein Schwarm Vögel am Novemberhimmel.
Heute weiß ich, dass Traurigkeit nicht das Schlimmste ist. Im Gegenteil, ich habe nach ihr gesucht. Gesucht in mir selbst. Nur viel zu selten gefunden habe ich sie. Und ich glaube, in manchen Momenten, da hätte ich alles für sie eingetauscht. Aber anzubieten, anzubieten hatte ich nichts. Sie allein nahm mir alles. Und sie gab mir alles.
2021/05/31