Vor den Fenstern hatte es zu regnen begonnen, die Felder und Wiesen wurden nass, das Schilf und die Weiden, sogar die Rehe hinter dem Haus. Und ich erinnerte mich, an einen Ort am Ende der Sehnsucht. Einen Ort, an dem selbst die Ferne wieder zum Nahen geworden war und den wir immer Mitte Ende August genannt hatten. Vielleicht gerade weil er weder das eine noch andere für uns gewesen war, sondern immer ein Anfang.
So weit die Seele trägt, so weit wollten wir gemeinsam gehen, doch wussten wir nicht wohin mit uns und kannten schon lange niemanden mehr, den wir hätten fragen können. Und weil wir ebenso wenig stehenbleiben wollten, sind wir einfach eingestiegen, und durch die Nacht gefahren. In den Norden zog es uns, wir konnten nicht sagen weswegen, doch behielten wir es bei, fuhren immer weiter und weiter, vielleicht schon alleine aus Angst, dass es uns andernfalls, würden wir nur einmal zu oft falsch abbiegen, wieder zurücktragen könnte. Und auch wenn wir sonst nichts wussten, dorthin zurück konnten wir auf keinen Fall. Die Fahrt, sie schien endlos, wir haltlos und das zusammen war, als gäbe es keinen Morgen mehr, zumindest keinen für uns beide. Und ganz falsch, ganz falsch hatten wir schließlich damit auch nicht gelegen. Während wir dahinfuhren, brauchten wir uns wenigstens nicht länger einzureden, nicht zu wissen wohin die Reise ging, denn hier, Seite an Seite in der Nacht, hatten wir doch längst vergessen, dass wir überhaupt unterwegs waren und es irgendwann einmal auch eine Zeit gegeben haben musste, in der wir nicht auf genau diese Art und Weise dahingelebt hatten. Zurückhalten hätte uns jetzt ohnehin nichts mehr können, kein Fuchs, der gemächlich am Straßenrand entlangtrottete, kein Baum, der sich bedrohlich darüber senkte, nicht das Paar Scheinwerfer, das sich für einen Moment an unsere Fersen heftete und schon gar nicht der Morgen, der ohnehin einmal auszubleiben schien. Stillschweigend und einsam rauschten wir an Städten und endlosen Feldern vorüber, waren von anderen unbemerkt und unbeachtet durch kilometerlange Alleen, nachtschwarze Wälder und zahllose verschlafene Dörfer hindurch geschossen. Nichts davon schien uns mit Bestimmtheit in Erinnerung zu bleiben, doch spurlos vorübergegangen war es auch nicht, zeigten wir doch abwechselnd, gleich wie müde wir waren, hinaus auf dieses oder jenes, das uns aufgefallen war und wir miteinander teilen wollten. Vielleicht einen Stern, der ganz besonders hell am Himmel schien oder die unzähligen rot blinkenden Windräder, die hier und da fern von uns vorüberzogen und die wir fast für eine Großstadt gehalten hätten. Und wer weiß schon, ob wir nicht vielleicht doch gesehen wurden und sich eine der Straßenlaternen, unter dessen Licht wir hindurchgefahren waren, oder eine der streunenden Katzen, die entlang einer Hauswand geschlichen war, an uns, und unser Vorüberziehen erinnerte. Aber wenn, ist nicht weiter wichtig, ob die Erinnerung nur für den Moment oder länger anhalten wird, werden sie doch ebenso darüber Stillschweigen bewahren, wie wir es niemandem verraten werden, dass die Laterne ihr altersmüdes Flackern nicht hatte sein lassen können, die Katze wieder einmal der Nachbarskatze nachgestellt hatte. Ein Geheimnis wird es bleiben, ist doch das Schweigen unter denen der Nacht ein unausgesprochenes Einverständnis. Das alles schien mir damals, todmüde wie ich längst war, unbestimmt, nahezu unwirklich. Eher war mir, als hätte ich mir selbst dabei zugesehen und uns vielleicht gerade deshalb so zielsicher durch die Nacht geführt. Es schien, so als wäre es genau das, was ich immer schon getan hatte (und ich hatte, wenn auch in einem anderen Leben).
Und wenn wir nur lange genug in der Ferne unterwegs sind, wird eines Tages selbst sie, und das ewig Unbekannte darin, zu etwas Nahem. Auch wir waren schließlich angekommen, an einem Ziel, das vielleicht sogar mehr uns, als wir es erwartet hatten. Überrascht waren wir, standen wir erst einmal still, dass uns die Zeit am Ende scheinbar doch einholen konnte, hätten wir doch nicht einmal mit Bestimmtheit sagen können, ob nun Stunden oder Tage vergangen waren, die Zeit um uns herum stehengeblieben war oder nur wir uns für den Moment eines Lebens aus allem, nicht selten dem Irrsinn dieser Welt, ausgeklinkt hatten. Während wir dahingefahren waren und uns in der Ewigkeit glaubten, waren von uns unbemerkt und unaufhaltsam zwischen den Sekunden ganze Stunden, und zwischen den Tagen ganze Jahre vergangen. Nahezu Kindern gleich waren wir bei unserem Aufbruch gewesen, hatten anfangs geglaubt oder daran glauben wollen nur unsere Eltern zurückgelassen zu haben, wie es irgendwann die Zeit dafür ist, doch als wir jetzt an uns hinuntersahen, erkannten wir, nicht nur alt geworden zu sein, sondern auch, dass wir ebenso alles andere verloren hatten. Aber wenn wir gekonnt hätten, hätten wir wahrscheinlich sogar uns selbst vergessen, wäre uns doch jedes Mittel recht gewesen, unsere Unschuld wiedererlangen zu können.
Doch hier, am Ende der Sehnsucht, ruhte ein kleines Häuschen am See, das uns ohnehin noch nie nach unserem Gepäck oder einer Vergangenheit gefragt hatte. Im Schilf und den großen Weiden dahinter wehte bei unserer Ankunft leise ein Sommernachtswind, letzte Sterne hingen sorglos darüber an einem Himmel, der immer noch, oder bereits wieder, ein wenig zu leuchten schien, wie das ganz oben im Norden und unweit des Meeres zwar üblich sein mag, doch uns stets von Neuem an verwunderte und in den Bann zog. Auch einen Anflug von Nebel gab es, Nebel, der still zwischen Wiesen und Rehen schlief, während auch die endloseste Nacht langsam ihr Ende nahm. Der Morgendämmerung, die zaghaft den Himmel hinaufwanderte, haftete ein letzter Hauch von Gedanken und Träumen an. Manche dieser Nachtgedanken ein jeder für sich, andere gemeinsam. Ich weiß nicht, ob wir gemeinsam einsam waren oder umgekehrt und schon gar nicht, wie nah oder nicht nah wir uns tatsächlich waren. Ob wir denn schon da wären, hattest Du mich flüsternd gefragt, während Du Dir noch ganz verschlafen die Müdigkeit aus den Augen gerieben und mich, gleich hier in der Einfahrt vor dem dunklen Häuschen stehend, fest an Dich gezogen hattest. Eine Umarmung, so als wären wir gerade nicht gemeinsam unterwegs gewesen oder als hätte uns die lange Reise um ein Haar voneinander getrennt. Ich hatte ein wenig seufzend bejaht, für einen Augenblick geschwiegen und, vielleicht zu mir selbst als Dir, etwas traurig ergänzt, dass wir das doch schon immer wären. Schließlich war ich ihr, der Einsamkeit, doch nie entronnen. Damals nicht, und heute schon gar nicht.
Später dann, als wir beide längst nicht mehr zusammen hinter dem Haus in der Wiese lagen, endlos in die Wolken hinaufsahen, uns von dem erzählten, was wir darin erkannten, vielleicht auch einmal aus einem Buch vorlasen oder für einen Moment schwiegen, nur dem Wind in den Bäumen lauschten, dem Wind, der vom Meer hierherzog und wir es deshalb an manchen Tagen nicht nur riechen, sondern als fernes Rauschen hören konnten, habe ich mich daran erinnert, dass Du und ich gehen wollten, so weit die Seele uns tragen würde. Vor den Fenstern hatte es zu regnen begonnen, an diesem Sommertag, der doch eigentlich hätte heiß und wie immer werden sollen. Nur das alles, das uns einst still willkommen geheißen hatte, nun einmal nass und, wenn nicht fortgespült, so doch für einen Moment vom Sommer befreit wurde. Die Felder und Wiesen, das Schilf und die Weiden, die Wege und Dächer, und sogar die Rehe hinter dem Haus, die sich, wie wir längst herausgefunden hatten, nicht selten bis in den Garten hinein trauten. Einen Garten, den wir als unseren glaubten aber der vielleicht doch nur Teil ihrer Heimat war. Und weil das alles ein wenig nach Sehnsucht klang, Sehnsucht nach Dir und diesen früheren Tagen, in denen noch zwischen jedem unserer leisen Atemzüge ein verständiges Schweigen gelegen hatte, erinnerte ich mich an Dich und unser Versprechen. Ein Versprechen vor Jahren gegeben, als wir zwar ebenso in jedem August hier angekommen waren und doch alles ganz anders gewesen war. Mitte Ende August, hatten wir es immer genannt, dieses Haus ebenso wie diese wiederkehrende Zeit in unserem Leben, auch an jenem Tag, von dem wir fortan, Hochheilig, und für immer, wie Deine Worte gewesen waren, an unserer Seite hatten verbleiben wollen. Aber wenn ich bedenke, wie am Ende alles gekommen ist, zwischen uns aber auch überhaupt, waren es vielleicht schon damals nur noch Erinnerungen gewesen, die uns trugen. Einfach immer weiter, auch dann, wenn dieses Weiter stets denselben Ort beinhaltete, weil das Wohin gar nicht mehr wichtig war, solange nur dem Blick zurück, ebenso wie dem Erwachen, weiter aus dem Weg gegangen werden konnte. Erinnerungen, die vielleicht selbst nur Träume von einem Gestern waren, das es nie wirklich gab; und einem Morgen, den es ebenso wenig geben würde. Vielleicht aber wusste die Seele, weise wie sie ist, längst, was wir nicht sahen oder gar nicht sehen wollten. Dass es kein für Immer gibt, erst recht kein Hochheiliges, und selbst sie, die Seele, irgendwann keinen Schritt mehr gehen mag, zumindest keinen mit unserer ewigen und doch nicht ewigen Schwere auf den Schultern, wenn sie doch längst fliegen könnte. Fliegen, gleich wohin, und wenn es nur fort von uns ist.
Aber weil es regnete, erinnerte ich mich ein letztes Mal. An Dich, und das Häuschen am See. Dort, wo die Ferne wieder zum Nahen geworden war. Und auch an den August. Auf Euch, aber vor allem auf Dich, mein lieber August. Fehlen wirst Du mir. Und weinen, weinen werde ich besonders um Dich, bist Du doch, zwischen Mitte und Ende, immer gewesen, was die Welt nie wieder für uns sein konnte. Ich fürchte nur, dass auch Einsamkeit nicht trägt ewig. Und ich hoffe Du verstehst das.
2021/09/08