Die Stadt im Rücken, den Blick in die Ferne gerichtet, ziehe ich wieder und wieder los. Nicht in sie hinein, stattdessen fort von ihr, fort von hier. Erst spät am Abend kehre ich heim, sehe in der Dämmerung wieder zum Fenster hinaus, lauschte einsam den letzten Geräuschen ihrer Bewohner, fernen Zügen, meinem Herzschlag. Nur für die Nacht bin ich zurückgekehrt, bin zuhause hier. Nicht zum Leben, sondern zum Träumen.
Schön hatte ich mir das ausgemalt, den Sommer über in die Stadt zu ziehen. Die Gewissheit zu verspüren, dass sie damit nicht länger fern ist, wenn ich sie denn bräuchte. Dass ich, wenn ich nun ihrem Äußeren leben würde, dort, wo der Blick in die Ferne noch nicht gänzlich verstellt ist und ich das städtische Schauspiel im Hintergrund ahne, jederzeit die letzten Schritte in sie hineingehen könnte. Hinein unter Menschen. Immer dann, wenn mir danach zumute wäre. Sogar Sehnsucht hatte ich verspürt, bei meiner Ankunft, vor wenigen Wochen. Sehnsucht nach einem früheren Leben; oder vielleicht überhaupt dem Leben selbst. Sehnsucht, wie sie nur jene kennen, die sich vielleicht in vielem, nur ausgerechnet nicht im Wirklichen verstehen. Als ich meinen ganzen Mut zusammennahm, fast schon euphorisch nach einem Ort in all den Gesichtern suchen wollte und durch die Straßen spazierte, verspürte ich plötzlich keinen Drang mehr tatsächlich dazuzugehören. Unerkannt wie beliebig war ich an ihnen vorübergangen und wurde doch, ob ich nun wollte oder nicht, zur Kulisse ihres Lebens, wie sie die meiner Träume. Und ich begriff mein Leben als genau das, nichts weiter als eine Träumerei vor einer Kulisse aus anderen Menschen. Wir, die wir sie, aus der sicheren Distanz heraus, still zum Leben des jeweils anderen liefern. Wir, wohl wissend, dass wir uns zwar sehen, aber niemals berühren werden. Und ich empfand Dankbarkeit für diese Distanz, ersparte sie uns doch beiden einsehen zu müssen, dass wir nichts weiter, nie etwas anderes füreinander sein würden. Vielleicht hätte ich fern von ihnen und der Stadt ebenso alleine, doch niemals ein Träumer sein können, waren doch sie es, die mich erst einsam werden ließen.
Ich werde meine Taschen packen, die Türe sachte hinter mir ins Schloss ziehen und fortfahren. Einsam werde ich dabei sein; vielleicht sogar noch ein wenig mehr, wie bei meiner Ankunft.
An manchen Tagen aber hatte ich mich gefragt, ob ich nicht einfach für immer so hätte weiterleben können. Dass ich alleine in jeden Tag hineingelebt hätte, einmal geblieben und nicht länger in die Ferne fortgezogen wäre. Stattdessen hätte ich die Jahreszeiten an mir vorüberziehen lassen, wie alles andere auch. Zwar aufmerksam, ihnen gegenüber, ihnen und ihren jeweiligen Eigen- und Schönheiten, doch dabei still, und unaufgeregt. Nicht länger ruhelos getrieben auf der Suche nach alldem, das vielleicht ohnehin nicht zu finden ist. Zumindest nicht von mir, bin ich doch einem anderen nahe gewesen und habe doch nur erkennen müssen, wie fern ich allen, und allem geworden bin. Und als ich, trotz all dieser Gedanken und Erwägungen, wieder fortzog, war mein Abschied still und frei jeder Illusion verlaufen. Ich war einsam, vielleicht sogar noch ein wenig mehr, wie bei meiner Ankunft. Vielleicht ist das überhaupt mit jedem Tag so, den ich lebe. Ich dachte nur, dass dort, wo ich hingehe, ohnehin niemand sein wird; und auch keiner von dem weiß, was ich hier gesehen habe und mir fehlen könnte. Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn es etwas gegeben hätte, das auf mich gewartet hätte. Etwas, das ich zurücklassen und an einem nicht allzu fernen Tag wieder in die Arme schließen könnte. Ich weiß nicht, vielleicht eine Erinnerung, oder ein Geruch. Vielleicht sogar Du, der Du doch eines Nachts ein letztes Mal im Licht der Straßenlaternen vor mir gestanden hattest, wir ganz allein zwischen den großen Linden und schlafenden Häusern, nur ein paar Sterne darüber. Sieh mal, es hat sogar Sterne, hatte ich nur verlegen zu sagen gewusst und Dich am Ende doch an die Nacht verloren. Selbst wenn ich zurückgegangen wäre, hätte ich ja doch nichts mehr von uns wiedergefunden, war doch längst alles fort, still und verschlossen. Ich hätte nur alleine zwischen den Häusern Fremder gestanden und mich gefragt, ob das alles ist, was vom Leben einmal bleibt.
2022/09/15
(Ich werde Sehnsucht verspüren; und selbst mein Dir-viel-zu-fremd-Sein wird mir fehlen.)