Ich habe über Leila nachgedacht. Sie fehlt mir. Wir fehlen mir. Manchmal glaube ich, mein ganzes Leben erinnerte mich an sie. Als hätte ich ein halbes Leben gebraucht, um sie überhaupt zu finden; und ein weiteres, um sie wieder vergessen zu können.
Wie heißt Du eigentlich? Leila. Und Du? Muss ich denn einen Namen haben? Natürlich, oder soll ich mir einen für Dich ausdenken? Johannes. Johannes, heiße ich. Hmm, Johannes, ich glaube das passt. Aber was machen wir hier eigentlich, Leila? Wir spazieren, es schneit so schön, wollten wir doch. Ja, ich weiß schon. Aber ich meine, Du und ich, wir sind doch beide Träumer, denkst Du nicht? Doch, vermutlich schon. Aber was spielt das denn jetzt für eine Rolle? Na, wenn wir jetzt unsere Träume tatsächlich einmal leben, was wird dann aus uns, wenn wir irgendwann aufwachen? Du meinst, wenn wir aufwachen und vielleicht einsehen, dass wir damit unsere Träume verloren haben und die Sehnsucht gleich mit? Ja, genau, was wird dann aus uns. Ich meine, nicht aus uns, sondern Dir und mir, ein jeder für sich. Was soll schon aus uns werden. Dann sind wir eben wieder so einsam, wie wir es vorher waren. Ich habe doch gesehen, wie Du hier immer saßt und nach mir gesucht hast. Sicher, aber jetzt, wo ich von Dir weiß, wie sollte ich später einmal weitermachen können, so als wäre gar nichts gewesen, als hätte es Dich und mich nie gegeben? Das kannst Du nicht; ich aber auch nicht. Das betrifft uns schließlich beide. Und überhaupt, jetzt ist es doch ohnehin schon geschehen. Wir können nicht mehr zurück, nur schauen, wohin es uns trägt. Und was, wenn ich gar nicht will, dass wir jemals aufwachen? Wenn ich will, dass wir einfach ewig so weitergehen, so als würden wir in der Nacht beieinander liegen und doch nie einschlafen? Dann müssen wir uns eben etwas einfallen lassen. Zusammen ist doch schließlich alles möglich, oder? Träume, sagten sie doch, als wir beide noch Kinder waren. Wenn wir denn je Kinder waren.
Seite an Seite durch die Altstadt, außer uns beiden nur wenige Menschen unterwegs, die im Laternenlicht und der Dämmerung eher Silhouetten gleichen, weiter hinten auch wie Pinselstriche scheinen, die ein anderer verträumt vor leuchtende Schaufenster in die Straßen und Gassen hineingemalt hat. Es schneit und schneit, Schnee verfängt sich langsam in ihren Haaren. Kalt muss das sein; auch wenn sie nichts davon zu bemerken scheint. Der Kirchturm läutet, noch ist es gar nicht so spät. Während wir gehen, und reden, sehe ich vereinzelt zu Dir hinüber. Du siehst, ich weiß nicht, nicht einmal wirklich hinunter auf das Pflaster, zu den Schaufenstern oder mir. Manchmal meine ich schon, Du würdest gar nicht so wirklich auf das sehen, was hier ist, sondern mehr das Erzählte vor Augen haben. So, als würdest Du nach den Buchstaben und Worten sehen, nach den Geschichten, die wir miteinander teilen. Wenn Du lächelst, wünschte ich mir, Du würdest dabei stehenbleiben und mich ansehen. Und dann frage ich mich, wie lange wir sein müssen, bis wir vertraut genug sind, dass wir die Worte einmal sein lassen, einfach nur schweigen und einander ansehen. Nur, was tun, wenn wir dann nichts von dem erkennen, das wir nun mit all den Worten zwischen uns aufgebaut haben? Wenn auf die Worte plötzlich nur die Leere folgt, die wir zuvor ein um den anderen Tag eingeatmet, fast von ihr gelebt hatten. Wenn wir verstummen und eben nicht im Stillen weitererzählen, wie ich mir das für uns beide vorgestellt hatte.
Hast Du eigentlich „Vergiss mein nicht“ gesehen? Natürlich, wer wäre ich, wenn nicht. Was hat Dir denn an ihm gefallen? Ich glaube, ich mochte, dass, so gerne wir manchmal unseren Erinnerungen entfliehen wollen, vielleicht doch etwas Gutes an ihnen ist. Dass wir, wenn wir sie tatsächlich verlieren würden, auch uns selbst damit verlieren. Weil, irgendwie ist doch jeder Mensch ein Teil von uns gewesen; und wir waren ja auch ein Teil von ihm. Wir haben uns einander selbst erzählt, mit jeder Begegnung. Mit dem, was wir sagten, fragten und dachten. Immer ein wenig anders. Wir sind ja heute all diese Geschichten, die wir erzählten. Eine zu verlieren, wäre ein Verlust, der uns vielleicht noch mehr weh tun würde, als es uns schmerzt, wenn wir einen Menschen verlieren. Weil, am Ende haben wir doch nur uns selbst. Das klingt schön, ehrlich gesagt. Sich selbst erzählen, ein ums andere Mal. Und Dir, was hatte Dir gut gefallen? Ich mochte vor allem die Szene, als er noch ziemlich zu Beginn ganz alleine am Strand gestanden hatte und dabei meinte, Sand sei überbewertet, es wären nur winzig kleine Steine. Ich mochte die Verlorenheit darin. Das war Deine liebste Szene? Ja, ich glaube schon. Verstehe, selbst der dunkelste Himmel ist Dir noch eine Spur zu hell, kann das sein? Das kommt in etwa hin. Und wir, wie passen wir da hinein? Gute Frage. Vielleicht will ich nach dem Suchen, das ich in Dir gesehen habe, als Du aus dem Fenster gesehen hast, Dich im Schneetreiben und Deinen Gedanken zu verlieren schienst. Woran hast Du dabei eigentlich gedacht? Das kannst Du nicht wissen wollen, das will nicht einmal ich selbst. Sicher, sonst würde ich ja nicht danach fragen. Und was, wenn ich es gar nicht teilen will? Wenn ich es für mich behalten mag? Weil Du Angst hast, es verlieren zu können, wenn ein anderer davon weiß? Auch. Aber vor allem, weil es mir manchmal so vorkommt, als wäre das alles, was ich bin. Und wer wollte sich schon selbst an jemand anderen verlieren? Du etwa?
Auf der Steinernen bleiben wir für einen Moment stehen. Das Wasser unter uns gluckst verhalten, fließt stetig und tiefschwarz von hier bis zum Vergessen. Ich stand einmal hier, so regungslos und lange während es die Leute an mir vorübertrieb wie der Wind, dass ich irgendwann gefragt wurde, ob denn alles in Ordnung mit mir wäre. Jener, der fragte, stellte sich mir ungefragt mit seinem Namen vor, so als müsse er erst einmal eine persönliche Bindung aufbauen. Ich war irritiert, lachte später darüber und fragte mich, wie ungewöhnlich es schon sein kann, einmal stehenzubleiben, wenn es schneit. Nichts weiter zu tun, als dem Schneetreiben zuzusehen. Dem Wintersturm; und den Leuten darin, die manchmal kaum flüchtiger als jede Jahreszeit scheinen. Mit einem etwas unsicheren Lächeln im Gesicht stand er vor mir und ich sah nach oben, folgte den Flocken, die es zwischen den Häuserschluchten entlangtrieb, mit meinem Blick und sagte, dass es das wäre, was ich mir ansähe. Und es stimmte, und stimmte auch nicht. Ich sah mir die Menschen an; aber eigentlich mich selbst. Suchte an ihnen nach mir, wie nach einem anderen, dem ich hier irgendwann begegnen müsste. Vielleicht nach dem, der ich hätte sein sollen, können oder früher einmal wollen. Als ich das Wollen noch konnte. Als er sich dann verabschiedete, und selbst eilig im Schneetreiben verschwand, hinterließ er in mir die Frage, ob ich mir den Schnee angesehen hatte, weil ich ihn mochte, oder weil ich mir nur darin gefallen hatte, jener Einzige zu sein, der die Welt einmal ruhen ließ, keinen Schritt mehr vor den anderen setzen mochte, bis es an der Zeit war, sich die Sekunden wieder aneinanderreihten, als hätte es genau diesen einen Moment der Ruhe gebraucht. Als wäre es der Schnee gewesen, der für einen Moment die Zeit und Welt stillstehen ließ. Als wäre er es und nicht in Wahrheit ich selbst gewesen. Daran habe ich jetzt gedacht, aber nicht davon erzählt. Stattdessen haben wir geschwiegen, bis ich mich räusperte, eine Spur verlegen. Wir stapfen weiter, reiben uns die kalten Hände. Kurz darauf, unter Linden, die dunkel und kahl links und rechts der Pfade ruhen, finden wir unter einer Decke aus Schnee eine Parkbank. Eine der Parkbänke, auf denen ich mein halbes Leben verbrachte und sie doch nie des Weges kam. Wo sie war, wenn ich hier saß und an sie dachte, frage ich mich jetzt. Wo warst Du, wenn ich hier alleine in der Nacht saß, Max Richter hörte und manchmal am liebsten ins Wasser gegangen wäre. Vielleicht überall, nur nicht hier. Und ich selbst? Genau hier, und vielleicht doch nirgendwo.
Und wenn wir nun einfach sitzenbleiben, nie wieder aufstehen würden? Wenn wir uns einfach herausnehmen würden, aus der Welt. Dann wären wir für immer. Wäre das denn so schlimm? Vielleicht ist das die falsche Frage. Du meinst, jede Geschichte ist es wert, sie bis zum Ende zu erzählen? Vielleicht. Und was ist mit den Geschichten, die wir selbst sind, unseren eigenen Leben? Geschichten, die eigentlich keine sind und sich manchmal doch danach anfühlen? Geschichten nach einer wahren Begebenheit? Ich meine, stell Dir vor, wir würden unser Leben einfach als eine Begebenheit betrachten. Aus der Distanz nüchtern auf uns selbst hinuntersehen. Aus der Ferne, und irgendwie doch viel zu nah. Klingt nach einem schönen Buchtitel, finde ich. Ja, aber wieso nicht tatsächlich einmal stehenbleiben? Du kennst doch die Momente, in denen man sich, auch wenn man es vielleicht nicht erklären kann, nichts sehnlicher wünscht, als dass man selbst es wäre, der vergeht. Nicht der Moment. Ein wenig so, als bliebe dann genau dieser eine Moment eines Lebens für immer bestehen. Man würde einfach selbst verschwinden, diesen Augenblick unangetastet und rein an seiner Stelle zurücklassen. Als könnte man, wenn man nur wüsste wie, eines Tages zurückkehren, nach einer langen Reise, als hätte er genau hier gewartet. Und Du meinst das ginge? Vielleicht, ich meine, haben wir es denn je versucht? Vielleicht ist es ja in Wahrheit so, dass wir, wenn wir einmal nicht mehr sind, zu Momenten zurückkehren können? Jedem einzelnen unseres Lebens. Dass wir, auch wenn uns dann keiner mehr sehen kann, in jeder Erinnerung, jedem Gefühl oder Gedanken verbleiben können. So lange, wie wir möchten. So lange, wie überhaupt irgendetwas, was auch immer das ist, auf der Welt sein wird. Wäre das nicht schrecklich, ewig sein zu müssen? Aus unserer heutigen Perspektive, ja, vielleicht. Aber, vielleicht wäre es ja dann kein Müssen. Wir wären einfach ewig. Glaubst Du, dass wir vielleicht manchmal nur das Verlangen danach haben, ewig sein zu wollen, weil wir bereits ahnen, dass das, was wir gerade fühlen, nicht für immer sein wird? Ziemlich sicher, ja. Und wir beide, wollen wir nun einfach hier sitzenbleiben, bis wir es leid sind; oder wollen wir genau dann fortgehen, wenn es gerade am schönsten ist? Wenn es am schönsten ist, bitte. Dann müssen wir jetzt aber schweigen, nur uns und der Stadt lauschen. Und dann, nach einer Weile, stehen wir einfach auf. Und wenn ich vor Dir aufstehe, Du noch bleiben willst? Es ist kalt, kalt genug, um zu erfrieren. Wenn ich könnte, ich würde niemals aufstehen. Ich würde hier sitzenbleiben, immer länger und länger, bis mein Atem keine Wolken mehr in die Nachtluft hineinwirft. So lange, bis der Schnee nicht länger auf mir schmilzt, stattdessen auf mir ruht, wie auf einer der alten Linden hier an unserer Seite. Ein Zuhause will ich ihm sein, so wie er mir immer eines gewesen war. Auch mit mir? Gerade mit Dir. Und wenn ich doch gehe? Dann komme ich mit Dir.
2022/07/11