In der ersten Dunkelheit verlasse ich das Haus, warte an der Haltestelle zwei Straßen weiter für einen Moment, bis ich mit dem nächstbesten Bus in Richtung meiner alten Universität fahre. Auf dem Weg zur Abendmensa bin ich, mein Ritual dieser seltsam zurückgezogenen Tage. In Gedanken gehe ich die Verbindungen durch, steige hier und da um, und bin schließlich an meinem Zielort angekommen. Die letzten Meter gehe ich still und alleine durch die Winternacht, kalt ist es geworden die Tage, und mein Atem wirft kleine Wolken in der Nachtluft. Wahrscheinlich bin ich auch schon zu alt für diesen Ort, fühle mich zumindest nicht selten fremd, vor allem zwischen den Erstsemestlern, die es an den Abenden manchmal auch hierher verschlägt. Sie, die mir fast wie Kinder scheinen. An manchen Tagen ertrage ich die unumgängliche Nähe in der Warteschlange, ihre Stimmen und das ständige Lachen um mich herum auch kaum. Dann erdrückt es mich, bis ich nur noch fort von hier will. Wieder zurück, hinaus in die zwar kalte aber wenigstens stille Winternacht. Irgendwann habe ich dann begriffen, dass ich eigentlich nur mich selbst nicht darin ertrage; aber einfacher hat es das auch nicht unbedingt werden lassen. Aber, Musik hilft an solchen Tagen. Tage, an denen vielleicht immer Musik da sein müsste. Erst einmal bis hin zur Kasse, manchmal, an schlechten Tagen, auch darüber hinaus. Trotzdem komme ich Abend für Abend wieder hierher. Vielleicht, weil ich noch einmal nach draußen möchte, noch etwas anderes sehen will, vielleicht sogar muss, als nur die viel zu nahen und immergleichen Wände meines Zuhauses. Ich mache mich lieber auf den Weg hierher, selbst, wenn ich dafür durch die ganze Stadt muss, vielleicht sogar gerade deshalb. Und an manchen Tagen, das sind dann die guten, gefällt es mir auch. Gefällt es mir, hier alleine zu sitzen, meinen Blick ruhig und unbemerkt über die fremden Gesichter schweifen zu lassen, irgendetwas darin zu suchen. Dann, nach einer viertel oder im Äußersten auch halben Stunde, in der ich niemanden erkannte und auch nicht wiedererkannt wurde, wieder, fast heimlich, davonzugehen. Nun zu Fuß erst den dunklen Weg mit den Parkbänken zwischen den beiden Friedhöfen hindurch, die Straße hinunter, in der ich selbst einmal wohnte, über die Kreuzung und dann am Hauptbahnhof vorüber. Dort einen langen Blick auf die Gleise und Züge werfen, dann weiter durch die Altstadt und über die alte, steinerne Brücke mit dem murmelnden Wasser, das jetzt, dunkel wie es ist, mehr eine Ahnung als Wirklichkeit ist. Schließlich durch den Park, am Fluss entlang und zuletzt das Gewerbegebiet, an dessen Rand ich zurzeit lebe. Nun, in der Nacht, nur vereinzelt Menschen unterwegs, manchmal auch die für eine Stadt ungewöhnlich anmutende Stille, die nur ab und an ein hell erleuchteter Bus oder eine Bahn durchbrechen, die, fern am Horizont, vor Stadtsilhouetten vorüberziehen.
Aber mein mir vertrauter Platz, weiter hinten in der Ecke, dort, wo es meist etwas ruhiger und ein Blick auf den kleinen See gut möglich ist, ist heute bereits belegt. Nach kurzer Suche und einem etwas längeren Zögern, nicht ohne eine Spur von Nervosität, stehe ich stattdessen vor Dir. Traurig, ein wenig verloren siehst Du aus. Vielleicht bin ich gerade deshalb jetzt hier gelandet, ist doch manch einer der Ansicht, dass wir einen Hang dazu hätten, sozusagen einen siebten Sinn, mit dem wir instinktiv Gleichgesinnte finden, uns und einander unweigerlich anziehen würden. Ob das auch gut ist, wenn es denn stimmen sollte, steht sicher auf einem anderen Blatt. Dein Blick streift mich kaum, ein vielleicht einladendes Nicken suche ich vergeblich. Ich setze mich trotzdem, ohne sagen zu können, ob ich nun störe oder Dir schlicht gleichgültig bin. Du aber siehst ohnehin längst wieder nach draußen. Ich beginne zu essen, und blicke nun auch hinaus. Und jetzt sehe ich, dass es hinter den großen Fenstern, und unserer Spiegelung darin, schneit. Das erste Mal in diesem Jahr. Ich mag dieses Schneien, das leise, lautlose Fallen, sich selbst genügend. Schneeflocken, die im Laternenlicht tanzen, daran denke ich dann immer. In einer Sekunde ganz zaghaft, fast schwerelos, und in der nächsten wieder vom Winde verweht, in alle Richtungen des Himmels. Ob Du Dich jetzt auch daran erinnerst? Das Knirschen gefrorenen Schnees unter den Schuhen, die schwarzen Gerippe der Bäume im Park, dahinter, fern, die Stadt? Oder, dass es manchmal, wenn es schneit, für einen Augenblick so still ist in der Welt, dass man selbst das sich leise Sammeln der Schneeflocken hören kann? Schnee, der auf Wiesen, Wege und Dächer fällt. Etwas verstohlen wage ich nun doch einen zweiten Blick, bin neugierig geworden und sehe zwischen dem nach draußen Sehen auch in Dein Gesicht. Zumindest in das, was ich in der Spiegelung erkennen kann, voller Hoffnung, dass es unbemerkt bleibt. Traurige Augen, viel zu traurig für ein Gesicht. Nur dass ich traurige Augen leider ganz besonders gerne mag und längst das Gefühl habe, dass ich etwas wiedererkenne. Irgendetwas, das nun einmal nicht dort stehenbleibt, wo für gewöhnlich alles in mir verstummt. Vielleicht ist es die Ahnung, dass darin mehr sein könnte, verborgen in dieser eigenen, ungewissen Distanz aus ebenso beiläufigen wie alltäglichen Worten, und wirklicher Intimität. Habe ich Dich nicht schon einmal gesehen? Lange muss das her sein, vielleicht schon über ein Jahr. Wir beide damals auf dem Nachhauseweg, spät am Abend, gar nicht weit von hier. Dass ich das Gefühl gehabt hatte, zuvor noch nie in einem Menschen so sehr Einsamkeit gesehen zu haben, daran erinnere ich mich jetzt. Deine Lippen fest aufeinandergepresst, Augen, die stumm aus dem Fenster sehen, aus Dir hinaus, auf all das, was man, wenn man unendlich einsam ist, als Äußeres empfindet. Dorthin, wo alles fern, vielleicht zu fern oder gar nie fern genug sein kann. Hinaus auf das, was flüchtig, scheinbar berührungslos, an uns beiden vorüberzog, während wir zwar für diesen Moment zusammen unterwegs waren aber wahrscheinlich in völlig verschiedene Richtungen. Gesagt habe ich nichts, bin still auf meinem Platz geblieben und habe Dich nur quer durch den Bus hinweg angesehen. Aber vergessen habe ich Dich trotzdem nicht, nie. Und immer weitergesucht. Auf dass ich das, was ich in Dir zu sehen glaubte, in einem der anderen Gesichter wiedererkennen könnte. Solange, bis ich vergessen hatte, wonach ich suchte, oder suchen sollte. Nur bei Deinem, da hatte ich es damals gewusst.
Noch während ich mich daran erinnere und gerade etwas sagen will, mich vor allem aber frage, ob das nun ein betretenes oder doch ein stilles Schweigen von Zweisamkeit ist, so eines, wofür es weder Worte gibt noch verlangt, stehst Du jäh auf. In einer scheinbar einzigen Bewegung schnappst Du nach Deinem Mantel und dem Tablett, und bist fort. So, als würde ich schon die ganze Zeit hier alleine sitzen, hätte mich nur in einem Tagtraum verloren. Ich will wenigstens noch einen Blick einfangen, will herausfinden, ob ich denn etwas spüren und wir nun vielleicht doch beide lächeln würden. Ein kleines Aufblitzen, wie das manchmal so ist, dass man für einen Moment scheinbar ein ganzes Leben lebt. Dieser Moment, der, nahezu unmerklich, zwischen zweier Sekunden liegt, fast ein wenig wie Abschiedsumarmungen manchmal sind. Dann, wenn zwei auseinandergehen, den Blick vom anderen und dem einstigen Uns für immer abwenden. Aber nein, nichts. Du siehst Dich nicht um, bist schon aus meinem Blick verschwunden und ich frage mich, wie Du nur so schnell die Treppe hinaufgekommen bist. Erst jetzt fällt mir auf, dass Du ja auch kaum etwas gegessen, nur lustlos, fast abgelenkt, vielleicht vom Schnee oder Gedanken, darin gestochert hattest. Jetzt bin ich es, der hier sitzt, und dabei traurig aus dem Fenster sieht. Und ich denke mir, dass es vielleicht wirklich besser so ist. Dass all das, diese ganze ewige Träumerei, nichts als Projektion ist, wie die Leute so sagen. Dass man nur sieht, was man sehen will; und manchmal nicht einmal mehr das, weil einem über die Jahre selbst das Versprechen an Zukunft fremd geworden ist. Vermutlich lag ich ohnehin ganz falsch. Du mit Deinen Gedanken gar nicht bei Schnee und Kälte, sondern Deinem Freund und einem kleinen Spieleabend, den ihr für heute Abend geplant habt. Dann, wenn ich schon längst wieder alleine zuhause bin, Du aber vielleicht noch schnell durch die Bars der Stadt ziehst, lachst, Geschichten von früher und gestern erzählst, zwischen Tür und Angel eilig Nachrichten in die Welt hinausschickst. Vielleicht an Deine Schwester, oder Deinen besten Kumpel, der gerade im Ausland unterwegs ist. Dann aber wären wir beide wieder (gem)einsam in der Nacht. Du dort, ich, vielleicht doch noch auf dem Nachhauseweg, gerade für einen Moment auf der Eisernen Brücke stehend, die Stadt vor mir, statt den bekannten Gesichtern von Freunden und Bekannten. Nur zählen, zählen würde das nichts, solange Du ja doch nicht von mir weißt. Und meist ist es ja ohnehin besser, Träume einfach Träume sein zu lassen. Lieber vernünftig sein, bevor sie am Ende noch verloren gehen. Sie, und die Sehnsucht gleich mit. Aber weiter nach Dir Ausschau halten, das werde ich. Denn so ganze, so ganz ohne geht das doch einfach nicht.
Gerade will ich aufstehen, da stehst Du plötzlich wieder vor mir. Deinen Mantel über dem Arm, ohne Tablett, doch dafür zwei Nachtische in den Händen. Schon sitzt Du mir gegenüber, kaum weniger schnell, als Du gegangen warst. Die Schälchen zwischen uns, legst Du Deine Hände mehr auf meine als Deine Seite, wie ich bemerke. Schöne Hände hast Du, denke ich mir. „So“, sagst Du, mit einem verschmitzten und mir plötzlich so ungemein vertrauten Lächeln. Eines, das sich ein wenig danach anfühlt, als wäre gerade eine lange Reise zu Ende gegangen und eine andere an ihrem Anfang. Jetzt muss ich auch lächeln, die Augen noch ganz traurig vom verlorenen aus dem Fenster Sehen. Ich schweige kurz und sage, „Weißt Du, wir könnten doch spazieren gehen“.
Genau genommen, ist es doch draußen nur so kalt, weil wir selbst so warm sind. Und jetzt, wo wir zu zweit sind, ist es doch auf einmal doppelt so kalt, aber auch doppelt so warm. Und irgendwie ist das doch schön, oder? Der Winter, und der Schnee.
2019/11/07