Ich habe gerade daran denken müssen, wie wir uns kennengelernt hatten, liege ich doch noch etwas wach, kann nicht so recht einschlafen, hier in der Ferne. Regentropfen sind es, die nur vereinzelt aber überraschend laut von den Bäumen fallen, still wie es hier am See ansonsten ist. Aber eigentlich ist es der Regen nicht und auch nicht der See, die mich erinnern, doch die Musik, die ich höre. Nicht irgendwelche, sondern The Tiny King of Limbo, ihre einzige EP. Keine andere Band hatte ich an diesen damaligen Abenden öfter gehört. Verdammt einsame Winterabende, an denen ich verloren und ruhelos durch die Stadt gestrichen war, bis ich Dir schließlich begegnete. Das Mädchen im Taucheranzug. Eigentlich Frau, junge Frau im Taucheranzug. Ohne groß zu überlegen, und damit ganz und gar untypisch für mich, hatte ich mich zu Dir gesetzt, Du zum Mittag draußen, Wintertag hin oder her, an einem der vielen freien Tische. Dein Handy war Dir kurz zuvor genau zwischen den Holzbohlen hindurch in den See gefallen, wie Du mir etwas aufgebracht erklärtest. Der an die Mensa angrenzende See, der kaum einer war und von uns spöttisch immer nur Der Seerosenteich genannt worden war. Auch, oder vielleicht gerade, weil es gar keine Seerosen darin gab und vermutlich auch niemals welche geben würde. Stattdessen sprangen nur ab und an Betrunkene nach einer der Studentenpartys hinein und landeten, vermutlich schmerzhaft, in wer weiß was; oder aber der stets genervte Hausmeister stieg, in einem alten Angleranzug gekleidet, missmutig hinein, um wenigstens ein paar der alten Räder zu bergen, die jemand aus Übermut, Frust oder schlicht Langeweile hineingeworfen hatte. Wahrscheinlich nicht selten von denselben betrunkenen Studenten, die ihnen dann nur ein wenig später hinterhersprangen. Und Fische, Fische hatte es auch darin, vermutlich Karpfen, die wir zwar sicher nicht hätten füttern sollen, es aber trotzdem nicht sein lassen konnten oder wollten und hin und wieder, etwas verstohlen und aufgeregt, die Essensreste von unseren Tellern über die Brüstung schoben. Natürlich nur dann, wenn vom Nachbartisch gerade keiner so genau hinsah. Boar, sieh Dir den Brummer an, sagten wir dann, wenn der dickste aller Fische, den wir entweder Den dicken Karl oder auch einfach nur Karl zu nennen pflegten, mit weit geöffnetem Maul auf den Reis, die Nudeln oder etwas Geflügel zu schwamm, den Happen reglos vertilgte und schon wieder im trüben Wasser verschwand. Nur Fisch, Fisch hatten wir nie von unseren Tellern geschoben, wäre das wohl definitiv nicht angemessen gewesen. Und Du, Du bist auch hineingegangen, in diesen See, der mehr Tümpel als See war und vor dem es uns, ehrlich gesagt, immer ein wenig graute. Aber mit Stil, mit Stil bist Du hinein. Du und ich, wir saßen uns gegenüber. Um die Fotos gehe es Dir, sagtest Du mir im Vertrauen. Das verstehe ich nur zu gut, bekundete ich mitfühlend, wusste als Fotograf nur zu gut von Bildern und ihrem Verlust. Komm, wir rufen mal an, schlug ich vor und Du gabst mir Deine Nummer, das Handy irgendwo unter uns, im Ungewissen liegend. Wahrscheinlich keine zwei Meter tiefer,- oder längst in Karls riesigem Maul auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Es geht niemand ran, sagte ich grinsend, ist genau genommen nicht erreichbar, scheinbar kein Empfang dort, wo es jetzt ist, schob ich erklärend nach. Dann hatten wir uns für den morgigen Abend verabredet, Du musstest los, eine Vorlesung wartete. Bis morgen wolltest Du Dir einen Taucheranzug von einem Kumpel borgen und lieber damit hineinsteigen. Ich sagte sofort zu, hatte ohnehin nichts weiter vor und mir gleich gedacht, dass das unterhaltsam werden könnte. Du hier, im Neopren zwischen den ganzen Studenten, die immer ein wenig aussahen, als wären sie geradewegs einem hippen Magazin entsprungen. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen, auf keinen Fall. Und ehrlich gesagt, wiedersehen wollte ich Dich auch ein wenig.
Am nächsten Abend dann war ich gerade noch beim Essen, nun im Inneren der Mensa, hinten in der Ecke, wo ich für gewöhnlich zu essen pflegte und den Eingang gut im Blick hatte, als Du, schon fertig umgezogen, im Neopren die Treppe hinter und direkt auf mich zu kamst, der ich hier ganz alleine am großen Tisch saß, damit Du mich sofort sehen konntest. Und die Blicke der anderen, die hattest Du sicher. Sie glotzten schon etwas dumm, die Studenten mit ihren insgeheim stinklangweiligen Leben, auch wenn das vermutlich nie einer von ihnen zugegeben hätte. Ich musste schmunzeln, hielt mich aber so gut wie möglich zurück, hatte ich doch sofort das Gefühl, wie froh Du darüber warst, mich hier zu sehen, jemanden zu haben, zu dem Du hingehen konntest, so als hätte hier alles seine beste Ordnung und es wäre ganz normal, im Neopren in die Mensa zu spazieren. Freunde von Dir hatten sich zwar ebenfalls angekündigt, waren aber noch nicht aufgetaucht. Ich erzählte Dir, dass ich es zwischenzeitlich immer mal wieder telefonisch bei Dir versucht hatte und Du sogar manchmal erreichbar gewesen warst, aber noch immer niemand meine Anrufe entgegengenommen hatte. Wer weiß, wie das zustande kam, der zeitweise Empfang im See ein Rätsel für uns beide, die Zurückhaltung der Fische vor dem Telefonieren aber noch ein viel Größeres. Dann erzählte ich Dir von Karl, oder Karl der Bestie, wie ich ihn dieses Mal nannte, um Dich vorzuwarnen, und wir lachten. Grüß ihn von mir, wenn Du ihn siehst, sagte ich und Du gingst los, um erst einmal den Schlüssel für die Terrassentüre zu besorgen, über die Du besser zum Wasser konntest. Lange gezögert hast Du nicht, bist rasch hinausmarschiert, nun von einer Freundin begleitet, dort ins trübe Wasser gestiegen und dann auch schon eingetaucht. Ich assistierte von oben so gut ich konnte, zeigte für Dich mit einem Stab die ungefähre Stelle zwischen den Bohlen an. Wenig später, nach ein, zwei Tauchgängen, hieltest Du schon glücklich und tropfnass das verlorene Handy in Deinen Händen. Wieder zurück in der Mensa, nachdem Du Dich hattest umziehen können, umarmtest Du mich kurz und versprachst mir, zum Dank für den Beistand, eine Einladung zu einem Essen. Aber keinen Fisch, sagte ich.
Dann hatten wir uns voneinander verabschiedet. Du, umringt von Deinen Freunden, zwischen denen Du fast so einsam ausgesehen hattest, wie ich es längst wieder war. Ich bin in die Nacht hinausgegangen, habe nichts mehr von Dir gehört und wiedergesehen, wiedergesehen haben wir uns auch nicht. Nie. Aber wenn wir es hätten, vielleicht wäre ich dann all die Jahre nicht so verdammt einsam gewesen. Und vielleicht, vielleicht ist das überhaupt der Grund, weswegen ich nun daran denken musste. Aber wenn ich mich erinnern will, an Dich, im Taucheranzug im Seerosenteich, zwischen dem dicken Karl und den anderen auf der Suche, dann höre ich The Tiny King of Limbo und alles ist wieder da. Das, und die Einsamkeit. Aber anders als Du, ist sie es ja eh immer.
2022/10/23
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