Erst hatte ich aufgehört nach Sonnenauf- und Sonnenuntergang zu sehen, dann an sie zu glauben. Es ist dunkel, in der Nacht, und auch am Tag, doch eine Spur weniger. Es sind Nuancen, nichts, das wirklich trennen würde. Weder Tag und Nacht, noch mich und das Vergangene. Im Regen, der fällt, als sei er die Luft, die wir zu atmen hätten, hat sich alles, aber auch wirklich alles längst aufgelöst.
Es hatte geregnet, ohne Pause und Unterlass, so lange, bis sich alles endgültig darin aufzulösen schien, vielleicht sogar wir, die wir doch selbst kaum noch etwas anderes als Nuancen waren, so wie auch Tag und Nacht längst nur noch ein und dasselbe schienen. Allenfalls der Grad der Dunkelheit schwankte ein wenig, so wie das manchmal auch der Fall war, wenn sich eine verirrte Wolke, vielleicht in einem Anflug von Verwegenheit, für einen Moment vor den Mond schob, in einer dieser Nächte, die es irgendwann einmal gegeben haben musste, aber die mir heute so fern sind, als wären sie nie gewesen, ist es doch länger her, dass ich Mond und Sterne noch sah, als ich denken kann. Und während es regnete und regnete, wurden die Felder und Wiesen nass und nasser, bis sie erst Bächen und Seen und das alles zusammen dann schließlich dem Meer glich. Wie Boote blieben wir und unsere Hütten darin zurück, konnten nicht rudern, nicht Segel setzen und nicht einmal wirklich Anker werfen und kämpften doch um unser Überleben, auch wenn wir nicht wussten wie und auch keinen kannten, den wir hätten fragen und der uns einen Weg hätte weisen können. Niemand wusste das, hatte es doch noch nie, noch nie nie nie so viel geregnet, an diesem Ort, der früher einmal unser aller Heimat gewesen und nun gar nichts mehr so wirklich war. Nichts, außer dem Land zwischen den Meeren. Meere, die stiegen und stiegen, sich vor unseren Augen unaufhaltsam aufbäumten, höher und höher aufragten, bis sie erst den schwarzgrauen Wolken über unseren Köpfen und schließlich der Nacht glichen.
Hinunter zur Mündung stapfe ich, weiß nicht wie spät es ist, vielleicht früh am Morgen oder doch längst spät am Abend, und der modrig, nasse Geruch hängt dicht in der Luft, zieht mir mit seiner Schwere in die Nase, wie die Feuchte in meinen Überzug, meine Stiefel, und vielleicht sogar bis in die Seele hinein, scheint er vor nichts und niemandem mehr haltzumachen. Und doch ist mir für einen Augenblick zumute, als könnte ich den Herbst jetzt riechen, ihn und seinen Geruch von Laub und Novembernebel zwischen all dem Wasser, das hier unentwegt als fortgespültes Unwetter zu allen Seiten an mir vorüberkommt, unterscheiden, auch wenn ich mich gar nicht mehr daran zu erinnern glaube, wie der Herbst eigentlich einmal gewesen war. Vielleicht aber ist da etwas in mir und meinem Innersten verborgen, das es weiß, vielleicht, weil es von Geburt an als ureigenes Geheimnis in uns übergeht, nicht anders als die Sehnsucht und Einsamkeit ferner Kindheitstage, und damit so gewiss ist und bleibt, wie nur irgendetwas im Laufe unseres seltsamen Daseins. Zwischen Felsen und versehrten Bäumen, die mich wie ein Gerippe umgeben, bahne ich mir mühsam einen Weg am Ufer entlang und ziehe hier und da Kadaver hervor. Erst Schafe, kleine wie große, und dann auch einen Hund. Das Fell, dunkel und schwarz wie die Nacht, liegt nass an und wenn ich es nicht längst besser wüsste, würde ich darauf warten, dass er sich nun jeden Moment schüttele und mit einem Bellen die Feuchte von sich abwürfe. Er, der wohl versagte, seinem Dasein, dem Schutz, der ihm sorgsam anvertrauten Herde, nicht gerecht geworden war, es gleich, ob er es versuchte oder rasch floh, mit dem Leben bezahlte oder vielleicht einfach selbst ins Wasser gegangen war, diesen hilflos dummen Geschöpfen hinterher. Ich weiß nicht, ob aus Scham oder als letzten Versuch, um zu retten, was längst nicht mehr zu retten war, fern des Schäfers, der sie doch alle, einen wie den anderen, zurückgelassen hatte, nur um seine eigene Haut zu retten. Der Schäfer, der jetzt keiner mehr sein kann, hatte er doch ebenso versagt, würde ohne seine Herde zwar noch für einen Moment den Regen atmen können, doch von nun an nichts mehr zum Leben haben, geschweige denn, dass er sich, Verräter wie er nun ist, auch nur ein einziges weiteres Mal unter seine eigenen Augen treten könnte. Und vielleicht war auch er ihnen später hinterhergegangen, war ohne einen Laut auf den Lippen hineingewatet, so als wolle er in neue, unbekannte Gegenden aufbrechen, in denen das Grass viel grüner, viel saftiger wäre. Erst mit vorsichtigen, fast ängstlichen, dann immer bestimmteren Schritten weiter und weiter vom schlammigen Ufer aus hinein, bis er den Boden, den er doch schon lange zuvor verloren hatte, auch nicht mehr unter seinen Füßen spürte. Er, der nun endlich das Gewicht seiner Beine und allem darüber vergaß, die müden Augen schloss und in seinen letzten Sekunden auf einmal alles ganz klar vor sich sah und, noch für einen letzten Augenblick an der Oberfläche treibend, sein Einverständnis erteilte, dass der Strom ihn nun erfassen und in die Ferne ziehen dürfe. Vielleicht hatte er sogar darum gebeten, dass ihn das Wasser zu ihnen bringen möge. Nur hier unten, hier unten bei mir zwischen den Felsen, scheint er einfach noch nicht angekommen zu sein. Und ich ziehe sie hinaus, diese armen Geschöpfe, fort vom brackigen Wasser, das an ihnen leckt, auch jetzt noch immer nicht genug hat, sie forttragen will, ich weiß nicht wohin, und suche ihnen hier, am Rande des Stroms, einen Ort, eine Ruhestätte, auf dass sie warten können, denn gleich was auch geschieht, unseren alten Herrn vergessen wir ja doch nicht. Vielleicht hatten sie nach ihm gerufen, in dieser unseligen Gewitternacht, mit Worten, die nicht weit genug reichten, nicht dorthin gelangen konnten, wohin es sie hätte tragen müssen. Und vielleicht rufen sie noch immer in die Dunkelheit und den Regen hinein, nur dass selbst ich es, der ich mich doch immer zwischen Welten zu wandeln glaubte, nicht hören kann. Und vielleicht, vielleicht ist das gut so, gibt es doch Laute auf dieser Welt, die keine Seele je hören sollte.
Aber wenn Johann hier vorüberkommen wird, Johann mit seinem schiefergrauen Bart, in dem sich dann vielleicht etwas Laub oder auch der eine oder andere Kieselstein verfangen hat, werde ich ihn ebenfalls hinausziehen und ohne zu zögern zu seinem Hund und Herde legen, damit sie wenigstens jetzt, nachdem sie das Wasser erst auseinandergerissen und doch insgeheim wieder zusammengeführt hatte, tatsächlich wieder vereint wären, heißt es doch, dass das, was die Zeit einmal zusammengefügt habe, auch vom Wasser nicht zu trennen sei. Ich werde ihn nicht fragen, was er sich nur dabei gedacht hatte, vor allem jetzt nicht, wo jedes Wort eines zu viel wäre und vermutlich ohnehin wie all die anderen zwischen den Fluten verloren ginge, aber vielleicht werde ich wenigstens ein letztes Mal in seine Augen blicken, seine Augen, mit denen er mich immer angesehen hatte, von hier bis zum Horizont, und davon hören wollen, wie das früher einst gewesen war, als er schon Schäfer war wie auch sein Vater und Urgroßvater und vielleicht immer so weiter, nur dass irgendwann keiner mehr weiter zurückwusste, und es noch nicht jeden Tag und jede Nacht geregnet hatte und dunkel war, bis aus allem ein und dasselbe geworden war. Danach würde ich ihn gerne fragen, auch wenn ich fürchte, dass das Vergangene etwas ist, für das die Gegenwart noch nie die richtigen Worte bereitzuhalten schien. Damals, als ich selbst noch Kind war und an Sommertagen die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut spürte, zumindest war mir das später gesagt worden, doch ist es mir heute ebenso ein Rätsel, wie jenen, die mir folgten. Zumindest, wenn denn überhaupt die Rede davon sein kann, dass seit diesem Tag, an dem der Regen erst mit einem Stottern, fast fragend begonnen hatte, so als wäre er sich seiner nicht sicher oder könne gar unerwünscht sein, überhaupt noch etwas folgte, das eine auf das andere, wenn doch die Zeit scheinbar zwischen zweier Sekunden festsitzt, weder die Zeiger der Uhren noch die Wolken am Himmel voranrücken und längst nichts mehr wirklich geschieht, außer diesem Regen, der schon lange keine Fragen mehr stellt. Ihn, den wir anfangs ersehnt hatten, dann ungläubig lachten, schließlich fluchten und schrien und dann alles zusammen und immerzu abwechselnd, bis wir zuletzt, hilflos und verdammt wie wir längst waren, nur noch geschwiegen hatten, so als wären uns selbst die Worte davongeschwommen, wie alles andere auch. Erst zu unseren Mündern und Türen hinaus und dann die Straße hinunter, die heute keine mehr ist, allenfalls die des Wassers.
Doch Johann ist nicht hier und vielleicht bin ich es in Wahrheit ebenso wenig, hätte ich doch erst mit seinem Auftauchen die Gewissheit, dass tatsächlich noch etwas von Bedeutung geschieht, selbst wenn es nichts weiter ist, als dass etwas von einem zum anderen Ort getragen würde. Doch immerhin etwas, bliebe sonst, unendlich fern von ihm, zu befürchten, die Zeit könnte wirklich stehengeblieben sein. Und ich stelle mir vor, dass es Johann ist, der zum Schlüssel von Welt und Zeit geworden ist. Dass er sich, gleich einem Stück Treibholz, irgendwo flussaufwärts zwischen anderen verkanntet haben könnte und, würde er sich nur endlich losreißen und bei mir angelangen können, alles wieder gut würde, könnten sich doch dann die Geschehnisse gleich der Sekunden in alter Manier aneinanderreihen, ist doch auch die Zeit nur das traurige Kind der Ereignisse. Vielleicht ist es einzig an mir hier auf ihn zu warten, hier unten alleine am Ufer, doch bleibt mir außer Warten und meiner Suche ohnehin nichts, auch wenn ich es längst müde bin, keine Kraft mehr in meinen Armen verspüre, sie hier alle hinauszuziehen, auf dass ich Johann irgendwann einmal darunter entdecken werde. Lange habe ich nicht damit aufgehört, halte nun aber für einen Moment inne, lege mich erschöpft und keuchend daneben, ins nasse Grass hinein, und es tropft noch immer von den Bäumen, tropft mir kalt und nass auf meine Wange, mein Gesicht, läuft an mir hinunter und das ist gut so, spüre ich so wenigstens meine Tränen nicht. Tränen, vielleicht nicht nur aus mir, sondern auch aus Himmel und Welt, weil sie jetzt beide, oder überhaupt, ebenso wie ich weinen, ahnen wir doch alle, dass das Wasser weiter steigt, dass ich mich, und uns, nicht weit genug getragen habe, dass es keine Ruhe gibt, auch an mir und meinen viel zu schweren Beinen zerrt, vielleicht aus Wut, dass ich ihm, und wenn es nur für den Moment ist, die Beute entrissen habe, während ich auf Johann wartete und hoffte, dass er nur rechtzeitig kommen möge, während es noch immer regnet und regnet, so als sei der Regen nun die Luft, die wir zu atmen hätten. Es ist das Rauschen, das in der Luft liegt, das Rauschen der Fluten. Es dringt mir in die Haut, gesellt sich wütend zum Pochen meines Herzens, zerrt an mir, ruft nach mir. Und der Himmel, er wird dunkler. Schwarzgraue Wolken darin, die längst aussehen, als würde ich nicht hoch, sondern hinabsehen. Alles dreht sich und mir ist, gleich ob ich die Augen nun schließe oder nicht, neben diesen schweren, nassen Leibern zumute, als würde sich der Himmel immer weiter senken, weiter hierher nach unten, und ob nun Herbst ist oder nicht, scheint mir auch nicht mehr wichtig, hier an der Mündung zwischen den Flüssen, die doch in jedem Moment zu einem und damit zum Meer werden können und ich spätestens dann auch nichts mehr habe, auf dem ich stehen und Ausschau halten könnte. Ich, der ich dann vielleicht selbst einmal wieder herausgefischt, irgendwo und irgendwann für einen feigen Schäfer gehalten würde, der aus Scham seiner Herde hintendrein gerannt war, auch wenn ich mir keinen einzigen Ort vorzustellen vermag, an dem das dann noch möglich sein könnte, müsste es doch dazu mindestens Land zwischen den Meeren geben. Und vielleicht, vielleicht hatten wir alle, die wir scheinbar arglos vom Regen geträumt hatten, insgeheim gewusst, dass es irgendwann einmal so kommen würde. Aber aufgehört, aufgehört zu träumen, hatten wir deswegen trotzdem nicht. Nicht im Traum hatten wir daran gedacht, reichte doch auch der kühnste unserer Träume nicht über die Nacht hinaus. Wir, die wir immer schon, vielleicht sogar seit Anbeginn der Zeit, als Nacht am Rande aller standen. Wir, die wir träumten und träumten, bis es dunkel geworden war, und dunkel geblieben war, fürchteten wir uns doch einst vor dem Tage so sehr, dass wir uns nichts sehnlicher wünschten, als dass die Dämmerung für immer bliebe, hätten wir doch andernfalls ein weiteres Mal in das Leben hinausmüssen. In Sicherheit hatten wir uns gewogen, war es doch immer der Wechsel zwischen den Welten, der uns sagte, ob wir schliefen oder wachten, doch verkannten wir, dass es ebenso gut nichts weiter als der Traum von einem in das andere gewesen sein konnte. Vielleicht hatte uns die Sehnsucht nach Regen zum gefährlichsten aller Träume geführt: dem von Tag und Nacht; und damit dem Traum vom Träumen.
Wir alle,
die wir träumen,
erleiden irgendwann Schiffbruch,
vermag doch kein Traum der Welt das Leben.
2022/11/01