In dem Moment, in dem sie zur Türe hinausgeht, ein Bündel unserer einstigen Briefe in der Hand, die ich ihr gerade noch wortlos gereicht habe, nimmt sie die Sehnsucht mit. Nicht irgendjemandes Sehnsucht, sondern meine. Meine Sehnsucht. Auch wenn sie nichts davon weiß, vielleicht nicht einmal wissen kann, will ich sie am liebsten anschreien, dass sie sie verdammt nochmal hier zu lassen habe, noch dass sie das geringste Recht dazu hätte, sie mir wegzunehmen. Doch stattdessen schweige ich. Schweige und lächle, weil ich irgendwann herausgefunden habe, dass wir, immer dann, wenn ohnehin nichts sinnloser als Worte sein könnte, ebenso gut lächeln können. Komisch mag das auf andere gewirkt haben, wenn sie dann vor mir standen, und weinten. Dass ich ihr später einmal fehlen werde, sagt sie mir, sich umdrehend und ein letztes Mal auf mich zugehend. Instinktiv weiche ich zurück. Und für einen winzigen Moment da glaube ich, dass sie jetzt vielleicht doch verstanden hat, was Abschied eigentlich bedeutet. Da ist so etwas in ihrem Blick, das ich zuvor immer vergeblich gesucht hatte. Dass wir vielleicht doch etwas gemein hatten. Vielleicht nicht sonderlich viel aber eben auch nicht nichts. Ist das nicht seltsam, dass wir uns jetzt auf einmal so nahe und vertraut sind? Ich meine, ausgerechnet in unseren letzten Sekunden? Man könne doch nur vermissen, was man nicht mehr wiederfinden wird, sage ich zu ihr, etwas unbeholfen am Türrahmen lehnend. Eben, flüstert sie mehr als dass sie es sagt, dreht sich langsam um und verschwindet in wenigen Schritten die Stiege hinunter.
Ich bleibe zurück, stehe noch immer dort und wundere mich. Ich hatte nicht gewusst, dass Gefühle durch Türen gehen können. Natürlich ahnte ich, dass auch Gefühle kommen und gehen. Eben wie Menschen. Aber dass auch ein anderer sie mitnehmen kann? Oder habe ich einfach nur vergessen wie man spüren kann? Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch etwas bin. So ganz ohne sie. Und wenn, dann ja wohl kein ganzer Mensch mehr, oder?
Heute glaube ich, dass Menschen, die gemeinsam sind, die Leere zwischen sich mit Worten füllen. Nur der Einsame, der atmet sie dagegen ein. Diese Leere. Er lebt von ihr. Und auch wenn ich das heute weiß – schön hat es sich trotzdem immer angefühlt. Also beneide ich sie, die Menschen. Für und um ihre Gefühle, die sie füreinander hegen. Dass sie aneinander glauben können, den Mut finden sich anzusehen. Tag um Tag. Eben solange, bis ein anderer folgt. Aber ich stelle mir das auch schrecklich vor mit einem Menschen zusammen zu sein, dem ich nichts mehr zu sagen hätte. Mir graute immer davor sich aneinander so abgenutzt zu haben. Dass das, was man aneinander gefunden und füreinander empfunden hatte, allein in dem, dass man es lebte, verloren gegangen war. Aber ist es nicht trotzdem einfacher so durch das Leben zu gehen? Zerstreuung, schlicht vor sich selbst? Ich dagegen, ich fühle immer nur mich selbst. Und manchmal nicht einmal das. Anstrengend ist das sich selbst so nahe zu sein. Ununterbrochen. Vielleicht wäre das anders, wenn Einsamkeit nicht der große Bruder der Sehnsucht wäre. Sie, die bleibt, wenn einem die Sehnsucht verlorengegangen ist. Weil sie einfach durch die Türe ging, nicht einmal umgesehen hatte sie sich nach mir. Einsamkeit, die, anders als sie, die früher oder später immer gehen, bleibt, wenn sie sich erst einmal niedergelassen hat. Sie führt zu nichts, noch dass sie etwas verlangen würde. Sie frisst sich einfach still durch die Seele, nicht anders als Krebs durch Körper. So lange, bis da gar nichts anderes mehr ist. Vielleicht nichts außer der Frage, wie das eigentlich sein muss, Sehnsucht nach etwas zu verspüren. Ganz gleich, was es ist. Ich glaube, ich wäre sogar dankbar um Sehnsucht nach der Sehnsucht. Aber verstehen, verstehen werden sie das nicht.
2021/09/17