Den Wald vor lauter Bäumen siehste nicht, heißt’s gemeinhin, doch gibt’s gewiss auf dieser Welt auch manch‘ Baum, der nicht gefunden werden mag. Aus Menschenscheu oder anderem guten Grund spielen sie Verstecken, wissen sich getrost hinter ihren Brüdern wie Schwestern rasch zu verbergen, verschwinden scheinbar spurlos wieder und wieder von der Erdoberfläche, nicht anders als der, der zum Suchen umherwandert, den Blick angestrengt und so durchdringend wie ihm nur irgendwie möglich in die Reihen hineinwirft. Endlose Reihen sind das, die sich teils gleichen mögen, doch nie dieselben sein werden. Ein Rascheln, das könnt‘ den Gesuchten vielleicht verraten, doch Rascheln tun sie nun einmal alle ein wenig, die Bäume im Flüsterwald, und auf einen ihrer eigenen Zweige treten wird wohl kaum einer von ihnen. Meist bleibt der Gesuchte damit ein Geheimnis; zumindest solange, bis ihn einer findet, der gar nicht gesucht hatte, denn manches im Leben das kann nicht gesucht, sondern nur gefunden werden. Nur die Pilzesammler könnten’s augenblicklich wissen, überall im Wald wie die schon waren, doch dabei leider stets den Blick gesenkt, hoben ihn einzig für den Nachhauseweg, wenn das Körbchen dann einmal gefüllt war. Es hilft nichts, ich muss das Rascheln und Flüstern lernen, muss in Jahresringen statt Sekunden denken, damit ich irgendwann einmal als einer der ihren gelten kann. Wurzeln, das ist’s, was ich nun tun will.
Noch im ersten Dämmerlicht aufgebrochen bin ich heute früh am Morgen, wollte nach einem bestimmten Baum suchen, von dem mir im Vertrauen einst erzählt worden war. Ein Baum der tausend Gesichter soll es sein, um den einer ringsherum gehen und gehen kann und doch ein jedes Mal ein neues in und auf ihm zu entdecken sei. Suchen wollte ich ihn nicht irgendwo, sondern ausgerechnet dort, wo Bäume für gewöhnlich anzutreffen sind: im Wald. Meine Vorhaben waren schon erfolgsversprechender; und Bäume fand ich hunderte, einer interessanter als der andere, doch ausgerechnet er schien mir nicht darunter. Auch wenn es gemeinhin heißt, man könne manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, fragte ich mich mehr und mehr, ob es nicht vielleicht eher ist, dass so mancher Baum einfach nicht entdeckt werden will, sich bestens zu verstecken weiß. Doch dann, nach Stunden des Umherstreifens und als ich längst selbst nicht mehr damit gerechnet hätte, stand ich plötzlich vor ihm. Ob er hier wohl schon immer verweilte, wunderte ich mich, glaubte ich doch schon einmal hier vorüberzukommen zu sein, kaum eine Stunde her, so als wäre er es zwischenzeitlich nur überdrüssig geworden, meinen Schritten und angestrengten Blicken noch länger zu entgehen, als hätte ich ihn, eine schreckliche Unruhe im sonst flüsterleisen Wald verbreitend, gar zu unbarmherzig auf meiner zweifelhaften Suche vor mir hergetrieben. Vielleicht war er es auch, der sich entschied, mir nun ein bestimmtes seiner Gesichter zu zeigen, dass ich glauben konnte, wiederzuerkennen. Und sicher, ein allgemeines Murren, das hätte ich hier auf meiner Suche gefürchtet, alleine wie ich zwischen den Gestalten war, doch das gleichmütige Rascheln seiner Brüder und Schwestern hatte mich ohnehin längst zu überzeugen gewusst: ob ich ihn nun gefunden hätte oder nicht – hier, im Flüsterwald, war ein Platz zum Wurzeln schlagen.
2023/11/01