Rilke schrieb, dass er gesehen hätte, wie sich das Gesicht eines Menschen löste, und in den zwei Händen zurückgeblieben war. Und dass es ihm gegraut hatte dorthin zu blicken. Mehr noch als den Blick auf das Gesicht von innen zu werfen, fürchtete er den Blick auf den bloßen, wunden Kopf.
Was würde geschehen, wenn man einem anderen in sein Gesicht blicken und nicht mehr damit aufhören würde? Wenn man den Blick halten würde, selbst wenn es längst unerträglich wäre. Wenn die eigenen Gesichtszüge, die über Jahre sorgsam errichtete Maske, nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre und zu zerfließen, sich aufzulösen drohte. Wenn man nicht mehr wüsste, ob das, was man doch in vollem Bewusstsein begonnen hatte, nun lächerlich, oder schlicht wahnsinnig wäre. Diesen Menschen, in den man zum ersten Mal tatsächlich hineinblicken würde. Könnte man ihm je wieder begegnen? Oder würde man ihn meiden müssen, selbst wenn man einst geschworen hatte ein Leben lang gemeinsam zu sein? Welche Angst hätte ich davor nicht nur meine eigene, sondern gar seine und unsere Nichtigkeit zu erblicken. Denn, wie lange gelingt es uns schon einander tatsächlich in die Augen zu blicken? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich in den letzten Jahren meines Lebens einmal einen Blick gehalten hätte, der länger andauerte als ein einzelner Flügelschlag.
2021/07/07