Weißt Du noch, wie es einmal geschah, dass wir uns am Hauptbahnhof verpassten und ich plötzlich furchtbare Angst hatte, es könnte nun tatsächlich so weit sein, dass Du nicht mehr kommen, von nun an für immer fortbleiben würdest? Aber als es dann wirklich passierte, nur wenige Wochen später, hatte ich den Moment schon so oft durchlebt, dass es mir nun viel zu unwirklich schien, um bestürzt zu sein. Ich war nicht traurig, sondern spürte nur, dass Du fehlst. Und gefehlt, gefehlt hattest Du mir schließlich schon von dem Augenblick an, wie ich Dich das erste Mal sah. Mit einem kleinen Geschenk in der Hand hatte ich hier gewartet, Gleis 9, an einem kalten und sonnigen Dezembertag, bis der Zug endlich eingefahren war. Du bist etwas weiter hinten ausgestiegen, hast Dich suchend und ein wenig unsicher nach mir umgesehen. Bis heute habe ich nicht verstanden, wieso Du die weite Reise ins Ungewisse, und zu mir, überhaupt auf Dich genommen hast, hatten wir uns doch selbst mit Worten kaum gekannt. Dann hattest auch Du mich gefunden, wir lächelten etwas verlegen, und ich hatte gewusst, dass ich Dich ein Leben lang mögen und ungemein vermissen werde.
Du fehlst mir, sage ich zu ihr, die sie gerade aus dem Zug ausgestiegen ist und, mit einem Rucksack über den Schultern, einer kleinen Reisetasche in der Hand, auf mich zugeht. Sie drückt mich an sich, kurz aber bestimmt, und entgegnet, dass es spätestens jetzt aber gefehlt heißen müsse. Vergangenheit. Nein, Du fehlst mir, entgegne ich wieder, nun ein wenig verschmitzt lächelnd. Ich bin doch hier, werde doch bleiben, sagt sie. Ja, sicher, denke ich, nur dass es nicht Jahre sein werden, wie Du gerade glaubst, sondern wenige Wochen. Und eben deshalb fehlst Du mir schon jetzt, verspüre ich bereits Sehnsucht nach der Zeit, als wir uns nahe waren, an Bahnhöfen, zwischen den Kiosk und verstreuten Koffern, Zügen und Reisenden, wieder und wieder begrüßten. Mal am Tag, mal mitten in der Nacht. Mal an diesem, mal an einem anderen Bahnhof. Später einmal werde ich Dir davon schreiben; doch Du wirst nichts mehr davon wissen wollen. Vielleicht ist es Dir am Ende einfach ergangen, wie es mir heute mit Orten geht – nicht fort zu wollen, aber auch nicht bleiben zu können. Noch immer vermisse ich es, Dich aussteigen zu sehen, etwas verlegen zur Seite zu blicken und Dich doch immer wieder, zwischen den Sekunden, anzusehen, Dein Lächeln zu erwidern. Erst zehn, dann fünf, dann kein Meter mehr, der uns trennt. Dir die Tasche aus den Händen zu nehmen, abzustellen, damit wir uns so umarmen können, wie sich das gehört für zwei, die viel zu lange nacheinander suchen mussten. Ich vermisse das Gefühl, kein Suchender mehr sein zu müssen, stattdessen einer, der nun angekommen, vielleicht gar selbst zum Bahnhof für jemanden geworden ist. Für Dich. Doch heute stehst Du an anderen Gleisen; und an meinem hält schon lange niemand mehr. Wenn Du Dich erinnern könntest, ich weiß nicht, vielleicht würdest Du dann verstehen, was ich damals meinte; und wie schwer es ist, wenn das Vermissen einfach nie so richtig aufhört. Vielleicht hätte ich auch nie vergessen dürfen, dass Bahnhöfe meist ja doch nur Zwischenhalte sind; und wer wollte schon als Endstation gelten, hinter der alles, aber auch wirklich alles, nur ins Leere führt?
Und heute? Du fehlst mir, habe ich schon lange nicht mehr gesagt. Weder zu ihr, noch irgendjemandem. Auch zu mir hat das keiner mehr gesagt. Wenn es denn überhaupt jemals jemand tat. Erinnern kann ich mich nicht daran. Du fehlst mir, was für schöne Worte. Vielleicht die schönsten überhaupt. Aber vielleicht, vielleicht hätten wir trotz unserer Gefühle, den sehnsuchts- und wehmutsgeprägten Ankünften und Abschiede unter den Zeigern der großen Bahnhofsuhren, weiter in zwei Welten gelebt, wären insgeheim doch immer einsam geblieben. Ich frage mich nur, war das nun einst weise von mir, der ahnende Blick in die Zukunft hinein, als Träumerei zu vermissen, was gerade noch ist und vor den Augen liegt; oder schlicht die die Schwarzmalerei eines ewig Weltfremden? An manchen Tagen aber kehre ich dorthin zurück, zum Hauptbahnhof, und stelle mir für einen Moment vor, es sei wie früher. Und wenn er dann ankommt, der Zug aus Wien, halte ich Ausschau, so als würde ich tatsächlich Besuch erwarten und es blieben von nun an nur wenige Sekunden, bis wir uns, im ziellosen Umhereilen der anderen, gefunden hätten, so als könnte und würde es niemals anders kommen. Was mir bleibt, ist die Einsicht, dass nichts wirklich selbstverständlich ist, bis wir einander gefunden haben. Dann aber fühlt sich auf einmal alles danach an, als müsste es genau so, und kein bisschen anders sein.
2021/07/17
(Vielleicht, vielleicht stehst Du ja selbst manchmal an Hauptbahnhöfen; nicht diesen, sondern den Deinen und suchst nach Dir und wie Du früher warst.)