Der Mann und das Meer, denke ich mir, unter grauem Novemberhimmel an der Donau stehend. Die gestrige Euphorie längst verflogen, gleich dem Schwarm Möwen, der mich hier noch vor kurzem belagert hatte, so als gäbe es bei mir etwas zu holen. Stattdessen kein Lächeln mehr, nur tiefe Müdigkeit. Ich habe gestern gelacht, und würde heute am liebsten weinen. Und schlafen würde ich gerne, schlafend der Welt entfliehen. Zu meinem Rücken ziehen Menschen vorüber, doch ich bleibe stillstehen. Ich schließe meinen Augen und kann es jetzt vor mir sehen, das Meer. Die Möwen sind es, die mich erinnern und augenblicklich in die Ferne ziehen. Am Heck des Schiffes, das Dröhnen des Schiffsmotors dumpf zu Füßen, eben jene Möwen über den Köpfen, nahezu schwerelos in der rauen Morgenluft segelnd, den Wind kalt in den Ohren, zeige ich unbestimmt auf das Meer hinaus und sage, „Siehst Du, das alles ist sie. Bis zum Horizont, und auch darüber hinaus“. Der Pier wird stetig kleiner, verschwindet mehr und mehr im Gestern, darüber die Sonne, die zwischen tiefliegenden Wolken aufsteigt und den Rumpf eines Schleppers an unserer Seite silbern im Sekundenlicht aufblitzen lässt. Meine Hand drückst Du und entgegnest, „Und ab und an, da laufen wir Häfen an. Häfen, an die wir uns später einmal sehnsüchtig erinnern werden, wenn wir jedes Land längst wieder zurückgelassen haben und doch nur auf der Suche danach sind. Weil wir zwar manchmal nicht gehen wollen, aber einfach nicht bleiben können“. Aber natürlich sagst Du so etwas eigentlich gar nicht, Du bist ja nicht hier. Nur ein alter Mann weiter hinten, der auf einer der Bänke sitzt und etwas vornübergebeugt hastig an einer Zigarette zieht. Ob sie es wirklich ist, die ihm Halt gibt, hier auf seiner letzten Reise? Oder ist es nur die Welt, die noch zu müde ist, ihn aufzufangen? Dass es seine letzte Reise ist, scheint jeder außer ihm sehen zu können. Nur sagen, sagen tut ihm das keiner. Und mir, würde man mir es sagen, wenn es auch meine letzte wäre? Doch ich drehe mich um, blicke in eines der kleinen Fenster und suche in der vagen Spiegelung angestrengt nach mir selbst. Ich kann alle Merkmale darin erkennen, die ein Gesicht für gewöhnlich ausmachen. Einen Mund, den man früher noch berührt hatte, blaue Augen, von denen man einmal sagte sie sähen immer ein wenig zu traurig aus, meine schon immer zu große Nase, einen Bart, die ersten Falten auf der Stirn, blonde Haare, die wirr unter einer Wollmütze hervorsehen. Alles, das ein Gesicht ausmacht, ist da. Und doch kann ich keines erkennen. Nicht mein eigenes, und auch nicht das eines anderen. Irgendetwas scheint zu fehlen darin. Und jetzt frage ich mich, ob es mit Gesichtern vielleicht ein wenig wie mit dem Blick aus dem Fenster ist. Dass man eigentlich gar nicht so genau weiß, was nun davor, und was dahinter liegt. Vielleicht ist es das, was meinem Gesicht immer gefehlt hat. Dass das, was sich dahinter verbirgt, selbst nicht weiß, was und wo es eigentlich ist. Denn werden wollte ich so vieles nicht, dass ich darüber ganz vergessen habe, wer ich überhaupt einmal hatte sein wollen. Aber vielleicht, vielleicht haben wir auch nur dann Gesichter, wenn ein anderer nach ihnen sucht.
Etwas zieht mich fort, vom Meer zurück an die träge Donau. Langsam wird mir kalt, auch hier wird der Wind stärker. Blaugraue Wolken verdunkeln in Windeseile Sonne und Himmel. Längst kein Land mehr in Sicht. Vielleicht wird es später sogar schneien. Es wäre der erste Schnee auf See, der erste Schnee in diesem Jahr. Ist das nicht seltsam, dass ich die Schwere auf meinen Schultern immer weniger spüre, je kälter es um mich herum wird? Etwas lässt dann ab von mir und jedes Mal frage ich mich, ob sich lebendig zu fühlen vielleicht nicht unbedingt bedeuten muss, sich nicht zu spüren aber doch, dass das seelische vor dem körperlichen Empfinden ein wenig zurücktritt. Ich vergrabe meine Hände tief in den Manteltaschen, meinen Kopf in der Kapuze, und ich atme sie ein, und ich atme sie aus. Die Einsamkeit. Früher einmal wollte ich atmen, bis ich nichts mehr außer ihr bin. Ich habe mir dann vorgestellt, dass ich, wenn es so weit wäre, nichts mehr sein würde. Dass ich mich von ganz alleine aufgelöst, und von allem Leben abgelöst hätte. Wie Putz an einer Wand, der noch für einen winzigen Augenblick in der Schwebe hängt und schließlich doch nach unten fällt. Er, der dann liegenbleibt, ohne noch einmal aufzustehen. Und manchmal, in Momenten wie diesen, glaube ich, dass meine ganze Lunge voll davon sein muss. Voll vom Meer, das damals vor mir lag. Groß und weit. Und schön. Auch ein wenig beängstigend, aber vor allem furchtbar einsam.
Dass auch Meere einsam sind, wollte ich Dir damals erzählen. Immer dann, wenn ich wieder einmal schlecht geträumt hatte und mitten in der Nacht aufgewacht war. Mit jedem Wort wollte ich wieder mehr und mehr Teil der Wirklichkeit werden. Vorsichtig war ich in den Flur hinausgegangen und dort stand ich dann für einen Moment in der Dunkelheit, wartete schweigend und etwas hilflos vor Deiner Türe auf ein Geräusch. Aber selbst, wenn ich es hörte, hatte ich doch nicht klopfen und Dir davon erzählen können. Stattdessen war ich stumm und niedergeschlagen zurück in mein Zimmer geschlichen, hatte mich unter der Decke verkrochen, wie ein geschlagener Hund in seiner Ecke. Auch das war einsam; Dich so nah und doch so fern zu wissen. Als Du dann wenig später gegangen bist, hatte ich die Zimmertüre verschlossen und versucht Dein Klopfen zu ignorieren. Dass ausgerechnet Du es warst, der den Mut und die Kraft dazu hatte, verstehe ich bis heute nicht. Das letzte, was Du zu mir gesagt hattest, war, dass es nie wieder so sein würde, wie es einmal war. Und dass wir uns erinnern sollten. An all das, was wir einmal waren und nicht mehr sein könnten. Und auch daran muss ich jetzt denken. Aber weißt Du was? Ich glaube wäre ich ein anderer gewesen, hättest Du mich vielleicht mögen können. Und vielleicht sogar ich mich selbst.
2022/01/13