Noch in der Dunkelheit alleine auf einen Berg hinaufstiegen. Dort, zwischen Felsen Zuflucht vor dem eisig-kalten Wind suchend, auf den nahenden Sonnenaufgang warten, auf das karge, weite Land hinabsehen. Zwischen vereinzelten Seen und den Bergen am Horizont kein einziges Licht, keine andere Menschenseele weit und breit. Nur ein wenig später, über Stunden sehnsüchtig auf tiefblau-weites Meer hinaussehen, sich darin verlieren, endlos den Wolken mit dem Blick folgen. Dann, am frühen Morgen, die Luft noch ganz kühl auf der Haut, einem Birkenhain, erstes Frühlingsgrün in den Zweigen, dazwischen und zu den Füßen Moos im Sonnenlicht, hinab zum Ufer eines kleinen Sees folgen.
An all diesen, ganz verschiedenen Orten bin ich während meiner Reise für einen Augenblick zuhause. Mir ist, schon nach wenigen Tagen, zumute, als hätte ich eine Ewigkeit auf diese Weise verbracht, doch dabei keineswegs so, dass es mir unangenehm wäre oder ich es gar als eine Verschwendung empfinden würden. Vielmehr, als hätte ich in kürzester Zeit Tausendes gesehen, hätte tausende Leben gelebt. An jedem Tag, ein bisschen Ewigkeit. Während ich dahingehe, mich unter Birkenzweigen verneige, der See etwas unterhalb zwischen den Bäumen im Sonnenlicht aufblitzt, gibt das taunasse Moos zu meinen Füßen mit jedem Schritt ein wenig nach, federt sanft ein und aus. Schon gleich darauf wird es sein, als wäre nie jemand hier gewesen. Weder ich, noch ein anderer. Ich hinterlasse Spuren, die kein anderer sehen kann. Spuren, die einzig mir und der Welt, die ich vorfand, gehörten. Es ist ein wenig, wie ich mir die Begegnung mit anderen Menschen immer vorgestellt habe. Ein kurzes Nachgeben, vielleicht aus Neugierde oder Mitleid heraus. Als Gast sinke ich für einen Moment hinein, dann trete ich hinaus, gehe voran und hinter meinem Rücken nehme ich als Letztes ein sanftes, fast erleichtertes Ausatmen wahr, kann meine Begegnung doch nun wieder frei und unbeschwert von mir sein. Keine Sorge, ich bleibe nicht lange, denke ich mir hier ebenso, wie wenn ein Jemand mich in die Arme schloss, ich für ein Abendessen am Küchentisch saß oder für eine Nacht in deren Bett schlief. Keine Sorge, ich bleibe nicht lange. Weder hier, noch anderswo. Ich glaube, ich wollte die Welt einfach Welt sein lassen; geschweige denn, dass es mir möglich gewesen wäre, mich ihr aufzudrängen. Irgendwann habe ich mich gefragt, welchen Sinn das mit anderen Menschen überhaupt haben könnte.
Während ich unterwegs bin, habe ich eine vage Vorstellung von dem, das noch vor mir liegen könnte, doch weiß ich nicht, wie es sich anfühlen wird, schließlich dort zu sein. Aber wenn ich angekommen bin, ist mir das Vergangene längst nicht minder vage und fremd, wie es das Zukünftige eben noch war. Letztlich scheinen sie beide, Erinnerung und Ahnung, nichts weiter als ein Traum zu sein, sind sie doch nur meiner selbst entsprungen. Vielleicht ist genau das das Wesen einer guten Reise. Das Gefühl unendlich weit gekommen zu sein; so weit, dass jeder Aufbruch und jedwede Etappe längst viel zu fern zurückzuliegen scheinen und es unmöglich anmutet, all das noch einmal von Neuem an zu durchleben. Einzig bleibt von jeder Reise, wer und wo ich heute bin, doch ganz ohne, dass ich jemanden darauf festnageln könnte, weder mich noch einen anderen, scheinen sie doch alle längst verschwunden. Anders als jene, die sich wieder und wieder einem anderen anvertrauten, bin ich einzig in mir selbst zuhause geblieben.
Ich bin weit gekommen, sage ich mir, zu weit um dieselbe Strecke noch einmal gehen zu können, oder gar zu wollen. Doch nicht etwa, weil mir der Schritt in die Vergangenheit unmöglich wäre, sondern weil ich nicht fähig bin, das, was zwischen damals und heute lag, erneut zu bewältigen, überstiege es doch meine Kompetenz. Ich glaube, ob gut oder schlecht ist, wo ich nun stehe, scheint nicht weiter wichtig, ist es doch ohnehin alles, was mir für den Moment bleibt.
Ich glaube, ich würde nicht noch einmal leben wollen.
2022/05/21