Ich wache auf, spät in der Nacht, doch ist es nicht einmal vollständig dunkel. So weit oben im Norden, an der Küste, ist es das irgendwie nie. Ein wenig, als wäre immer Dämmerung; schwer zu sagen, ob nun am Morgen, oder Abend. Als würde der Mond aus dem Verborgenen in die Wolken hineinleuchten, den Schlaflosen in der Welt darunter Trost spenden, den Weg weisen. Es stürmt, recht heftig sogar, mein Wagen ächzt und schaukelt wie ein Schiff auf hoher See. Für den Moment frage ich mich in einem Anflug von Sorge, ob es mich denn tatsächlich forttragen oder ich zumindest Seekrank werden könnte. Soweit das denn geht, mit Land unter den Füßen. Geschweige denn, wie man denn schlafen soll, bei einem solchen Tosen, auch wenn ich es gerade noch getan hatte. Ich tapse nicht mit nackten Füßen, einer Decke über den Schultern, hinaus ins Dunkle des Flurs, hinüber zum Telefon an der Wand, sondern suche stattdessen hier in der gewohnten Unordnung meines anderen, vielleicht eigentlichen Zuhauses danach. Das Display leuchtet auf, doch habe ich keinen Empfang, viel zu weit draußen wie ich hier bin. Ich wähle trotzdem Deine Nummer und sage, nach kurzem geduldig-verschlafenem Warten, so als hättest Du mit einem Gähnen tatsächlich abgenommen, dass ich von Dir geträumt habe. „So“, sagst Du, „ist es denn schön gewesen?“, als wäre es üblich voneinander zu träumen, gleich wie fern und spät, und einander davon zu erzählen, vielleicht sogar eines Nachts demselben Traum anzuhängen, erstaunt einander zu begegnen, als wäre da, hier in der Welt, vielleicht doch mehr möglich als das, was wir an jedem anderen Tag zu sehen und verstehen glauben. „Ich war am Meer, etwas weiter vorne sah ich Dich stehen, als Silhouette, ganz schmal und doch unmöglich zu übersehen“, erzähle ich. „Kein Sturm, nur blauer Himmel, ohne jede Wolke, und Du nah genug, um zu sehen, dass Du es bist, doch zu fern, um etwas rufen zu können oder gar Dein Gesicht zu sehen“. Ich schweige für einen Moment, hole Luft. „Ich stehe also da, nur leise den Wind und fernes Gezeitenrauschen in den Ohren, und sehe, wie Du langsam Deine beiden Arme hebst und in den Himmel streckst. Und für einen Moment da frage ich mich, ob ich nun hinunter zu Dir gehen sollte. Dass Du vielleicht willst, dass ich meine Arme fest um Dich lege, oder ob Du, wie wenn wir Kinder waren, vom Vater in die Luft gehoben und darin umhergeflogen werden magst. Wie ein Vogel im Wind, den man nur loslassen müsste. Wie ein Vogel, den hier unten nichts mehr hält. Dann blickst Du zur Seite, so als wüsstest Du, dass ich hier stehe und Dich beobachte“. „Und dann, was ist dann passiert“, fragst Du mich mit tonloser Stimme. „Der Ruf einer Möwe schreckte mich auf; und weil mir schon die ganze Zeit so war, als wäre da noch ein anderer hier, drehte ich mich um. Doch da war niemand. Und als ich wieder zu Dir sah, warst Du einfach fort. Und ich fragte mich, ob ich all das vielleicht nicht nur geträumt hatte, eigentlich ganz alleine hier stand, so wie ich es auf den Reisen schon tausende Male zuvor getan hatte, fern anderer, weit und breit keine Spur von Dir. Trotzdem haste ich nach vorne, direkt auf den Abbruch zu, dorthin, wo Land und Meer sich entscheiden müssen, was sie sein wollen. Tag um Tag unentwegt voneinander zehrend. Der Wind ist stärker hier vorne, zerrt auch an mir und ich blicke etwas zögerlich nach unten. Steil fallen Klippen und Felsen ab, ganz unten schroffe, schwarze Felsen. Wellen, deren Anblick mich augenblicklich hineinzuziehen droht, dieses niemals endende verschlungene Treiben aus Gischt und allen Farben von Blau und Schwarz, die es in der Welt, und in uns selbst gibt. Weißt Du, manchmal glaubte ich schon alles darin erblicken zu können; wie das Auge zu einer anderen Welt, einem Geheimnis, dem Geheimnis aller Geheimnisse. Ich sehe also hinunter, doch keine Spur von Dir. Und dann begreife ich, dass Du gar nicht hier unten bist, weil ich zwar immer dachte, wenn man fällt, würden wir nach unten fallen, wo das doch in Wahrheit gar nicht stimmt“. „Und, was glaubst Du, soll das alles bedeuten?“, fragst Du mich. „Weißt Du, ich glaube, dass Du unter den Augen eines Königs einfach Deine Arme gehoben und davongeflogen bist. Hast Dich nun in seine hineingelegt, wie ein Vogel in ein Nest“. „Wer soll das sein, dieser König?“, fragst Du. „Das weiß ich nicht; aber ich glaube, dass er längst auch nach mir ruft. Vielleicht schon immer, nur dass ich es nicht hatte wahrhaben wollen“, entgegne ich. „Ist das nicht alles ein wenig pathetisch?“, sagst Du skeptisch. „Das ganze Leben ist pathetisch, findest Du nicht?“, flüstere ich und lege auf.
2022/05/16