Wenn ich mich an mein Leben erinnere, kommt es mir manchmal vor, als hätte ich tausende Worte gekannt, doch keine für einen anderen Menschen gefunden. Weder die richtigen, noch irgendwelche. Vielleicht liegt das daran, weil es mir mit Menschen wie mit Worten ging – ich fand sie nicht.
Mein Notizbuch liegt vor mir. Darin, fein säuberlich und Seite für Seite, Kapitel meines Lebens. Ich blättere um, lasse spielend Wochen und Monate hinter mir, bis ich auf eine neue, noch unbeschriebene Seite stoße. Doch, gleich wie leer sie auch scheinen mag, habe ich bei genauer Betrachtung das seltsame Gefühl, sie sähe mich an, in mich hinein, nahezu einem Spiegel gleich. Woran denkst Du, fragt sie mich in tiefer Vertrautheit. Und ich beginne lautlos in ihr zu lesen, wie sie in mir, denn nicht vor, sondern hinter meinen Augen steht längst die Welt. Und ich liebe das Schreiben, denn immer, wenn ich es tue, glaube ich daran, ich könnte Seite für Seite mit Leben füllen, an jedem Wort, jeder Zeile wachsen, mehr und mehr darin finden. Dass ich alles finden könnte, was mir mit anderen Menschen nie gelungen war. Vielleicht sind Notizbücher die besseren Freunde, denke ich mir in einsamen Stunden, auch wenn ich mir manchmal, wenn ich nachts zu einem der seltenen Sommergewitter aufwache, verschlafen den Regentropfen auf Fenstersims und Bäumen lausche und in einem Anflug von Träumerei, vielleicht sogar Sehnsucht, nach jemandem greifen möchte, schon wünschte, ich hätte nicht nur Notizbücher als stille Lebensgefährten an meiner Seite. Vielleicht hatte Marié, als sie mir an einem kalten Wintertag mein allererstes Notizbuch zum Geschenk machte, längst geahnt, dass sie nicht mehr lange hier sein würde. Sie gab mir kein Buch, sondern ein neues Leben an die Hand. Eines, in dem ich alles, was mir durch den Kopf ging, nun stattdessen weißen Seiten anvertraute; und mich überhaupt erst so richtig in die Einsamkeit trieb. Nur, für eine Kehrtwende schien es längst zu spät, hatte ich doch auch gar nie gewusst, in wessen Leben noch unbeschriebene Seiten zu finden gewesen wären. Und darum, darum ginge es doch, oder?
2022/06/28