In einer alten, ausgewaschenen Hose steht er unerwartet vor mir. Steht vor mir und sieht ein wenig verloren und still in die Baumwipfel hinauf. In die Sonne und die Blätter hinein, die im Wind flattern, ein wenig wie der Flügelschlag eines Vogels. Das späte Sonnenlicht blitzt auf darin, wieder und wieder, Licht Schatten, Licht Schatten, und augenblicklich will ich wissen, was es ist, dass er da sieht und fühlt. Also frag‘ ich ihn, ihn, den ich schon so lange nicht mehr gesehen habe und doch kein Tag vergangen ist, an dem ich nicht an ihn hätte denken müssen. In zehn Jahren, kein einziger Tag. Zehn Jahre nur dass er dann plötzlich einfach so vor mir steht, nach all der Zeit. Und mir ist als wär‘ kein Tag vergangen und mir ist als wär‘ die Zeit der ganzen Welt vergangen. Was ist’s, dass Du da siehst, frag‘ ich ihn also und er entgegnet, dass er das selbst nicht so genau wisse. Nur dass er etwas sehe, dessen sei er gewiss. Aber was es ist, dass könne man ja unmöglich wissen, in Anbetracht der Dinge. Welcher Dinge?, frage ich ihn. Und da sagt er mir, dass es doch schon längst so sei, dass die Zeit nicht mehr linear verlaufe, sondern nur noch wild und unkontrolliert vor- und zurückspringe. Ohne jeden Anfang und Ende, weder Vor- noch Nachher. Und er darin, so als Mensch und allein, langsam gar nicht mehr wisse, wie man denn damit umgehen solle. Und da wird mir klar, dass, ganz gleich wie vertraut seine Stimme auch klingen mag, vielleicht heute doch ganze Welten zwischen uns liegen. Seine Stimme, zu der ich doch am liebsten auf immer eingeschlafen und wieder aufgewacht wäre. Eine Träne rinnt mir langsam mein Gesicht hinab, denn auch wenn ich uns beide immer fest bei mir trug – was, wenn wir uns am Ende doch verloren haben? Und überhaupt, frage ich mich jetzt, hätten nicht auch unsere Stimmen ebenso zu anderen werden müssen, wie auch wir zu irgendetwas anderem geworden sind? Weil, das kann doch eigentlich nicht sein, dass wir vertraut füreinander klingen, wenn wir’s doch längst nicht mehr sein sollen. Doch da geh‘ ich einfach hinüber zu ihm, die drei Meter, die doch niemals nur drei Meter, sondern ganze zehn Jahre sind, und drücke ihn fest an mich. Drei Meter, in denen irgendwie alles liegt, und nichts zugleich. Drei Meter, die jetzt keine drei Meter mehr sind. Und da sagt er mir, dass ihm das gefehlt hätte und wo ich nur gewesen wäre, all die Jahre. Ja, wo war ich nur all die Jahre? Genau hier, hier bei Dir. Dachte ich zumindest, insgeheim und immer. Selbst wenn mir das nicht immer klar war.
2021/05/08