Der Sommerabendwind fährt mir sanft durch die Haare, streift meine Arme. Ich schließe die Augen, denke dabei, dass das ganze Leben Abschied ist, ich aber doch von manchem Sonnenuntergang länger hatte Abschied nehmen können, als von den Menschen, die mir einst am Herzen lagen. Andererseits schien so vieles davon über Jahre in mir weiterzubestehen; und damit war ich selbst vielleicht der einzige wirkliche Abschied. Einer, der ein Leben lang andauerte.
Noch immer streife ich manchmal, wenn ich etwas verloren und alleine dahingehe, im Vorbeigehen über das, was dann an meiner Seite liegt. Ganz gleich, ob ein altes Gemäuer, eine verwitterte Bank oder das hohe Grass einer Wiese. Alles, das nicht Mensch ist. Ich streife mit den Fingern darüber, zerreibe sachte die Samen eines Halmes, die morsche Rinde eines Baumes zwischen meinen Fingerspitzen. Wenn ich das früher getan habe, wollte ich mich davon vergewissern, dass ich ebenso existiere, wie all das andere auch. Heute versuche ich mir einzureden, dass auch nur irgendetwas außerhalb von mir zu existieren vermag. Das, was ich mit meinen Händen berühren kann, kann kein Teil von mir sein, muss also außerhalb von mir bestehen, sage ich mir. Auch wenn ich nicht verstehen kann, wie es möglich ist, dass ich mich zwar selbst fühlen aber nicht berühren kann. So, als wäre ich weder das eine, noch andere. Weder innen, noch außen. Vielleicht beginnt alles, das vor meinen Augen zu liegen scheint, erst just in dem Moment, in dem ich meinen Fingerspitzen danach ausstrecke, zu existieren, wird damit unmittelbar Teil von mir, so als hätte es auf mich gewartet, zweifle ich. Denn das Leben, habe ich mir früher immer vorgestellt, sei nichts anderes als eine Welt, ein Raum, der anfangs noch unermesslich groß und später immer klein scheint. Etwas mir Fremdes, durch das ich mich mit jedem Schritt und jeder Sekunde hindurchbewege. Als Wanderer, vom einen zum anderen Ende. Doch längst glaube ich, dass Leben und Welt mehr einem Strom gleichen. Dass ich darin, mutterseelenalleine, an einer immergleichen Stelle stehe und in der Illusion, mich fortzubewegen, mit meinem Armen stattdessen alles, das mir entgegenkommt, links und rechts, so gut es mir eben gelingen mag, an mir vorüberziehen lasse. Manchmal gleicht dieser Strom einer Sturmflut, ist rasend und undurchdringlich, so dass ich mich ganz klein machen muss, um nicht fortgerissen zu werden. Ein andermal scheint er so weit und schwerelos, dass ich schon glaubte meine Arme heben und davonfliegen zu können. Selbst wenn ich darin nach etwas Bestimmtem hatte greifen wollen, war doch alles an mir vorübergegangen, war niemals nahe genug gewesen, um es tatsächlich zu mir ziehen zu können, ist vor meinen Augen aufgetaucht und grußlos in der Ferne verschwunden. Vielleicht ist es letztlich unbedeutend, ob ich nun durch die Welt wanderte oder sie es war, die an mir vorüberzog, ganz egal, wer von uns beiden es ist, der nicht mehr sein wird. Allein mit mir wird die ganze Welt untergehen. Davontragen wird es mich, spurlos um die nächste Biegung werde ich verschwinden. Selbst wenn es dann keine Biegung und keinen Strom mehr gibt. Und wenn ich danach gefragt worden wäre, ob ich jemals einem anderen begegnet war, so hätte ich aufrichtig geantwortet, dass ich in diesem Leben und dieser Welt niemals einen Menschen gesehen habe.
2022/06/14
(Der einsamste Ort ist und bleibt in mir selbst. Überall dort, wo ich selbst bin)