In einem Buch des Schriftstellers John von Düffel, ‚Vom Wasser‘ der Titel, las ich kürzlich von der Krüppelfreiheit. Eine seltsame Art von Freiheit, die dem Protagonisten zugefallen war, war er doch, ob durch Unachtsamkeit verursacht oder kurzerhand die sich ihm bietende Chance ergreifend, gestürzt und konnte nun, seines auf Lebzeiten versehrten Beines wegen, nur noch mühselig und von einem deutlichen Humpeln begleitet von einem Ort zum anderen gelangen. Doch dieses Krüppelsein, die unbeschwerte Fortbewegung und Normalität auf immer eingebüßt, es war ihm nicht zwingend zum Nachteil, galt er jetzt bei den anderen, selbst der eigenen Familie, als entstellt, als einer, über den man besser tunlichst hinwegsehe, sein bloßes Vorhandensein in der Welt so gut wie nur irgendwie möglich ignoriere. Doch er, er schien eben gar nicht unglücklich darüber, denn er gewann damit seine eigene Form der Freiheit, konnte nun ungestört der Einsamkeit frönen, der Malerei und der immer fortwährenden Suche nach dem, wie er sagte, ‚rechten‘ Licht nachgehen. Wenn es sie gibt, diese Krüppelfreiheit, dann muss dieser Wald sie auch innehaben, diese seltsame Zusammenkunft aus von Stürmen versehrten, von der Zeit knorrig gewordenen Bäume, die im Ergebnis, wenn es denn dort, wo ein jeder anders ist, auch dann für sich alleine steht, wenn er längst auf einen der Nachbarn gefallen, mit ihm verwoben scheint, etwas Gemeinsames geben kann, als Krüppelwald gelten könnten. Je länger ich darin umhergehe, dabei in jeden Winkel sehe, hinter jeden Baum und Fels spähe, desto mehr begreife ich, dass die Divergenz von der Norm auch Segen sein kann. Zumindest, solange sie still und weitestgehend unbeachtet sein darf. Und ich selbst, ich selbst war doch auch gar nicht wirklich hier gewesen, war allenfalls, tief in einem meiner Träume versunken, eine Handvoll verschlafen-zaghafter Schritte darin umhergegangen, bis mich die Dämmerung, sanft doch bestimmt genug, daraus hervorzog, ich das Gesehene schnell als Vermeintliches abtat, nur bei einem unbedachten morgendlichen Blick in den Spiegel, für einen kurzen Augenblick eines seltsamen Bildes verwunschener Gestalten erinnert, verwundert den Kopf schüttelte und darauf, was auch immer einmal gewesen sein mag, vergas.
Bei meiner Ankunft frühstücken hatte ich wollen, hatte für diesen Tag meiner Reise mit nichts weiter gerechnet, doch schon von weitem gesehen, dass hier, anders als noch auf dutzenden Kilometern zuvor, die Wolken so tief über dem Land hängen, wie ich es allenfalls für morgen erwartet und mir erhofft hätte. Also bin ich doch prompt losgezogen, erst ein wenig außer Atem den Hügel hinauf, dann Schritt für Schritt, jetzt vollends in den Wolken angekommen, in den knorrigen Krüppelwald hinein. Ab jetzt ist Ruhe geboten, die Schritte werden langsamer, doch eine Stetigkeit lasse ich nicht vermissen, weiß ja schließlich nicht, wie lange der Nebel anhalten wird, auf dass mir bis zu seinem Verfliegen gelingen mag, was ich mir schon so lange fest vorgenommen hatte: hier, in diesem verwunschenen Wald, jeden Winkel, der es wert ist, fotografiert zu werden, zu fotografieren. Und tatsächlich, zum ersten Mal seit meinen zahlreichen vorangegangenen Besuchen lässt mich der Nebel auch nicht im Stich. Schließlich, knapp zweieinhalb Stunden später, bin ich zwar erschöpft, von hohem Grass wie tiefhängenden Zweigen durchnässt, doch auch zufrieden mit mir und meinem Schaffen, soweit mir das überhaupt möglich ist. Manches mag ich noch immer übersehen, falsch eingeschätzt oder aus einem anderen Grund nicht mit der Kamera festgehalten haben, doch vieles wird es nicht sein. Und selbst wenn, wer wäre ich, auch am letzten Geheimnis dieses Hains zu rühren, noch dass ich ihm seine Freiheit nehmen dürfte.
2024/10/30